Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freund*innen des Kunstmuseum Wolfsburg,
Kunst transformiert. Für das Jahr 2023 haben wir uns für diesen Titel entschieden, denn damit wird nicht nur eines der wesentlichen Merkmale der Kunst umschrieben, sondern auch die Programmatik des zurückliegenden Jahres bestens erfasst. Und es ist zeitgleich das erste Mal, dass wir unseren Jahresbericht digital – und damit zeitgemäß und nachhaltig – präsentieren.
Kunst transformiert – dabei geht es immer um Wandel oder Verwandlung. In der Kunst wird zunächst ein Gedanke in ein konkretes Werk transformiert: Das können Worte, Bilder, Skulpturen, Filme, Musik o. Ä. sein. Der zeitgenössischen Bildenden Kunst geht es jedoch um weit mehr, da sie auch die ästhetische Umwandlung von Wissen, von Erfahrungen oder Visionen umfasst. Das macht sie so unglaublich faszinierend und animiert immer wieder aufs Neue, sich mit ihr auseinanderzusetzen, sie auszustellen, über sie mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen und mit ihr den gesellschaftlichen Diskurs zu bereichern.
Auf ganz besonders anschauliche Weise konnte das Phänomen der Transformation bei der Ausstellung Re-Inventing Piet. Mondrian und die Folgen verfolgt werden. Zunächst bei den Werken von Piet Mondrian selbst, die verdeutlichen, wie konsequent eine ganze künstlerische Weltanschauung in den Werkkomplex von Mondrians äußerst reduzierten neoplastischen Bildern übertragen worden ist. Diese herausragende Transformationsleistung hat bis heute zahlreiche Künstler*innen und Kreative aus den Bereichen Mode, Design oder Architektur inspiriert, sich mit Mondrian und seinem Hauptwerk auf vielfältigste Weise auseinanderzusetzen. Die unglaublich große Wirkungsgeschichte von Piet Mondrian zeigte sich auch an dem partizipativen Projekt Bring your own Mondrian, bei dem rund 70 Menschen ihre vom Künstler inspirierten Alltagsobjekte ins Museum brachten. Auch medial konnte eine ausgesprochen positive Bilanz rund um die „grandiose Schau“ (art Das Kunstmagazin, 07/2023) zu Mondrian gezogen werden. Neben zahlreichen Berichterstattungen hat der Fernsehsender ARTE, initiiert durch unsere Ausstellung, die einstündige Dokumentation Abstrakt und radikal. Mondrians Vermächtnis produziert.
Aber auch die weiteren Ausstellungen im Jahr 2023 haben unter dem Aspekt der Transformation Faszinierendes präsentiert: Freundschaften. Gemeinschaftswerke von Dada bis heute hat dies gleich in Doppel- oder Mehrfachpackungen beleuchtet, denn dort wurden gemeinschaftliche Transformationsleistungen präsentiert, die – egal ob sie kritisch, subversiv, sich selbst bestärkend oder humorvoll daherkamen – den Prozess des künstlerischen Verwandelns in ihrer jeweiligen Zeit eindrücklich dargestellt haben. Auch die kurzfristig ins Programm genommene Schau Ukrainian Dreamers. Charkiwer Schule der Fotografie konnte aus transformatorischer Perspektive Wichtiges beitragen, denn sie zeigte anhand von achtzehn Positionen, wie innerhalb der letzten sechzig Jahre in der Ukraine der Fotografie ein Wandel vom Medium der Dokumentation zur künstlerischen Ausdrucksform gelungen ist. Gleichzeitig gelang es der Charkiwer Schule, unter Verwendung von technisch-experimentellen Praktiken, die Richtlinien des damals in der UdSSR geforderten Sozialistischen Realismus und Verbote der sowjetischen Kulturbehörden zu unterlaufen und daraus künstlerischen Gewinn zu ziehen. Darüber hinaus war die Ausstellung aber auch ein politisches Statement einer genuin ukrainischen Kunstrichtung.
Die beeindruckendsten künstlerischen Transformationen konnte jedoch die Ausstellung Kapwani Kiwanga. Die Länge des Horizonts bieten. Wie nur wenigen anderen Künstler*innen gelingt es Kiwanga, aufgrund ihrer umfassenden Rechercheleistungen in Archiven und Bibliotheken, aber auch auf Basis intensiver Auseinandersetzung mit der westlichen Kunst der Postmoderne, insbesondere der Minimal Art, Kunstwerke zu schaffen, die radikal ästhetisch sind und zugleich – gewissermaßen als Kehrseite der Medaille – eine Vielzahl globalgesellschaftlicher Probleme wie Rassismus, Machtmissbrauch, ökologische Exzesse oder historische Fakten thematisieren. Intensive Farben, ungewöhnliche Materialien und Licht sind die wichtigsten Mittel für die Wandlungsprozesse der vielfach ausgezeichneten Künstlerin. Auch diese Ausstellung erfreute sich über eine umfassende mediale Berichterstattung. Neben zahlreichen Pressemeldungen (u. a. in der Süddeutschen Zeitung, EIKON) hat der ORF in der einstündigen Sendung Licht Macht Kunst neben unserer Ausstellung Macht! Licht! auch über unsere Schau von Kapwani Kiwanga berichtet.
Eine Transformation ganz anderer Art gelingt jedes Jahr aufs Neue unserer engagierten Kunstvermittlung, denn sie muss die – manchmal recht komplexen – thematischen und künstlerischen Inhalte unserer Ausstellungen in zugängliche und gut verwertbare Informationen für unsere Besucher*innen verwandeln und kommunizieren. Dies gelingt zusätzlich zu den klassischen Vermittlungsformaten besonders gut über digitale Medien, wodurch insbesondere jüngere Menschen angesprochen werden. Ein herausragendes Beispiel ist das von uns etablierte und bereits von anderen Museen adaptierte Format Studio Digital, wofür wir für den Grimme Online Award nominiert worden sind – eine Auszeichnung der besonderen Art! Seit letztem Jahr vermitteln wir die Inhalte unserer Projekte zudem analog und niedrigschwellig für ein möglichst breitschichtiges Publikum, indem wir alle Texte in unseren Ausstellungen in sogenannter Einfacher Sprache anbieten, wofür wir nicht nur von zahlreichen Besucher*innen viel Lob bekommen, sondern sogar auch von der Süddeutschen Zeitung (11.10.2023). Mit dem steten Transformationsprozess innerhalb der Kunstvermittlung ist eine weitere Öffnung hin zu bisher unerschlossenen Besucher*innengruppen verbunden, da gerade sie für die Zukunftsfähigkeit unseres Museums wichtig sind.
Die Ideen rund um alles, was mehr Nachhaltigkeit und damit eine hohe ökologische Verantwortung bietet, stehen selbstverständlich weiterhin unter einer beständigen Transformation. Ein Wandel hin zu weniger Emissionen, weniger Ressourcenverbrauch und damit auch Energieeinsparung ist unser großes übergeordnetes Ziel. Das interne Team Nachhaltigkeit begleitet in kleinen, aber kontinuierlichen Schritten diesen Transformationsprozess. So haben wir 2023 unter anderem in den Ausstellungen zugunsten von recycelbaren Papierbahnen auf Schnittplots aus Kunststoff verzichtet und vor allem Dank der Förderung durch die N-Bank die Umrüstung unserer Beleuchtung auf LED-Systeme auf den Weg gebracht, wodurch wir künftig bis zu 235 Tonnen CO₂ pro Jahr einsparen werden.
Wenn wir einerseits mit Freude auf das erfolgreiche Jahr 2023 zurückblicken, so muss aber andererseits auch ein Ereignis erwähnt werden, das uns alle am Beginn des Jahres sehr bestürzt hat: der Tod von Prof. Dr. Carl H. Hahn (1926–2023). Aus Liebe zur Kunst und enger Verbundenheit zu Stadt und Region hatte er Ende der 1980er-Jahre die Initiative zum Bau des Kunstmuseum Wolfsburg ergriffen. Ihm gelang es, neben der Volkswagen AG und der Stadt Wolfsburg die von Asta und Christian C. Holler gegründete gleichnamige Stiftung sowie weitere Spender*innen für die Vision eines international agierenden Museums für die Kunst von der Klassischen Moderne bis hin zur Gegenwart zu gewinnen. Im Foyer des Museums erinnern wir mit seiner Büste an ihn und seine herausragenden Verdienste um unser Haus.
Wir fühlen uns dem Gründungsgedanken des Kunstmuseum Wolfsburg, kulturelle Bildung für die Region zu bieten, weiterhin und gerne verpflichtet. Blickt man auf das Jahr 2023 zurück, so wird dies durch unsere vielfältigen Aktivitäten, seien es Ausstellungen, Vermittlungsprogramme, Veranstaltungen oder Publikationen, bestens belegt. Gerade in Zeiten der Angriffe auf unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist eine im besten Sinne „funktionierende“, mithin bereichernde, aber auch kritische Kunstszene wichtiger denn je. Die Transformationen, welche die Kunst zu leisten imstande ist, können durch nichts ersetzt werden. Im Wissen um diesen eminenten Wert danken wir allen „unseren“ Künstler*innen, unseren Förderern und Förderinnen und Unterstützer*innen, Kooperationspartner*innen und natürlich Ihnen, unserem wunderbaren Publikum!
Andreas Beitin & Team