Kraftwerk Heidersberger: Eine Bildikone wird 50
Die ikonografische Fotografie Kraftwerk der Volkswagen AG von 1971 von Heinrich Heidersberger wurde 50. Das Jubiläum war Anlass, um das fotografische Werk eines der interessantesten deutschen Fotografen (wieder)zuentdecken, der mit seinem eleganten, kontrastreichen Stil eine eigene Fotosprache entwickelte. Und so präsentierten gleich drei Häuser in Wolfsburg, darunter das Kunstmuseum Wolfsburg, die Werke des Fotografen.
In einer Vielzahl von Veranstaltungen vom 4. September bis zum 14. November 2021 wurde das Foto gemeinsam mit Partnerinstitutionen aus unterschiedlichen Perspektiven unter dem Titel KRAFTWERK von Heinrich Heidersberger – eine Bildikone wird 50 in den Blick genommen. Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigte eine Ausstellung zur Bildikone Kraftwerk der Volkswagen AG mit 22 weiteren Aufnahmen unter dem Titel Kraftwerk Heidersberger (14.09.–14.11.2021), die Städtische Galerie Wolfsburg fragte nach dem identitätsstiftenden Moment seiner Bilder, und das Institut Heidersberger bietete in Archiv-Führungen im ehemaligen Atelier im Schloss Wolfsburg einen Blick hinter die Kulissen und führte in das Œuvre ein. Höhepunkt war eine Podiumsveranstaltung am 4. November in der Autostadt Wolfsburg.
Bekanntheit erlangte Heinrich Heidersberger mit seiner Architekturfotografie, darüber hinaus arbeitete er u. a. für den Stern und verwob zeitlebens surrealistische Einflüsse in seinen Aufnahmen. Insbesondere in den sorgfältig arrangierten und ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Fotografien gesellt sich ein hintergründiger Humor. In Heidersbergers Werk spiegeln sich durch stilistische und thematische Vielfalt die wichtigsten Entwicklungslinien der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wider.
Als Heinrich Heidersberger (1906–2006) im November 1971 das Kraftwerk der Volkswagen AG für eine Ausstellung im Haus Wolfsburg zur Olympiade in München 1972 fotografierte, schuf er ein Bild, das seinen Erfolg als Architekturfotograf krönte. „In ihm fließen die unterschiedlichen Einflüsse zusammen, denen er in seinem künstlerischen Leben ausgesetzt war,“ so Bernd Rodrian, Leiter des Institut Heidersberger.
Heidersberger zählt zu den führenden Fotografen der Moderne und gilt als eine der zentralen Figuren der abstrakten Fotografie der 1950er-Jahre. Er wird der Neuen Sachlichkeit zugeordnet und hat sich als herausragender Experimentalfotograf einen Namen gemacht. Bekanntheit hat der Perfektionist Heidersberger auch mit seinen Lichtexperimenten erlangt, die sein Werk maßgeblich prägen. Als Vertreter der Generativen Fotografie, die mit technischen Hilfsmitteln außerhalb der Kamera Einfluss auf das Bild nimmt, hat er die Grenzen des Mediums erweitert.
Die Bildikone Kraftwerk
Seltener Wind aus Osten, ein kühler klarer Herbstmorgen, die Verlegung des Fluchtpunktes in die linke Bildhälfte, das gegenüberliegende Ufer parallel zur Horizontalen – Technik, Zeitpunkt und Wetterlage der Aufnahme sind geschickt gewählt. Die Untersicht der Brücke zieht den Betrachter magisch in die menschenleere Szenerie. Während Farbfilter für einen tiefdunklen Himmel und schneeweißen Dampf sorgen, lässt die lange Belichtungszeit das Wasser förmlich gefrieren. In dieser unwirklichen und zugleich beeindruckenden Aufnahme scheinen sich nach Andreas Beitin, Direktor des Kunstmuseum Wolfsburg, Utopie und Dystopie zu begegnen. „Während das Bild zur Zeit seiner Entstehung für Aufbruch, Wirtschaftswunder und Stolz auf das Geleistete stand, kommen in späteren Jahren Ölpreiskrise, Umwelt und ‚Grenzen des Wachstums‘ hinzu. Es macht damit auch den Wandel Deutschlands sichtbar”, so Benjamin Heidersberger, Geschäftsführer des Institut Heidersberger.
Heidersberger war Europäer par excellence. 1906 in Ingolstadt geboren, wuchs er im österreichischen Linz auf und verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Dänemark. In Graz studierte er Architektur und wandte sich schließlich der Malerei zu. Ende der 1920er-Jahre zog es ihn in die Pariser Bohème. Begeistert vom Surrealismus der Pariser Avantgarde um Giorgio de Chirico und Fernand Léger, schrieb er sich an dessen Académie Moderne ein, wo er sich dem Medium Fotografie zuwendete. Vom Surrealismus blieben ihm das schelmenhafte Spiel mit Bilddetails und die besondere Wahl der Perspektive erhalten. Nach dem 2. Weltkrieg avancierte er zu einem der gefragten Architekturfotografen in Deutschland.
Für den Stern machte er sich auf zu Reisen rund um den Globus und fotografierte auch journalistisch in Farbe. Nach Stationen in Salzgitter und Braunschweig lud ihn 1961 die Stadt Wolfsburg ein, wo er bis zu seinem Tod 2006 lebte und arbeitete. 1963 definierte er mit seinen Bildern für das Buch Wolfsburg – Bilder einer jungen Stadtdas Selbstbild der gerade einmal 25 Jahre jungen Stadt und seiner Bewohner*innen. Engagiert blieb er bis zum Schluss, setzte sich für die Auseinandersetzung mit der Geschichte Wolfsburgs und dem Erbe von Zwangsarbeiterschaft ein. Heidersbergers Werk umfasst ca. 130.000 Bilder aus den Gebieten Architektur, Reportage, Industrie und Werbung sowie algorithmische Experimente. Seit 2002 wird das Werk durch das Institut Heidersberger mit Sitz in den ehemaligen Atelierräumen im Schloss Wolfsburg archiviert, aufgearbeitet und publiziert.
Das Projekt KRAFTWERK von Heinrich Heidersberger – eine Bildikone wird 50 wurde unterstützt von der Stadt Wolfsburg, der Volkswagen AG und den Freunden Heidersberger e. V.
Publikation: Heinrich Heidersberger: Wolfsburg – Bilder einer jungen Stadt, Neuauflage des Bildbandes von 1963 mit einem Beitrag von Andreas Beitin u.a., fotografiert und gestaltet von Heinrich Heidersberger, gebundene Ausgabe, 104 Seiten, 3., unveränderte Auflage 2020, für 24,95 Euro im Museumsshop erhältlich.
Heinrich Heidersberger, Kraftwerk der Volkswagen AG, Wolfsburg, 1971, Kunstmuseum Wolfsburg © Heinrich Heidersberger