30 Jahre und ich wünscht’, ich könnte sagen, dass ich mindestens genauso viel wie du, das Kunstmuseum Wolfsburg, geschafft habe
30 JAHRE KUNSTMUSEUM WOLFSBURG
am 25.5.2024 in Wolfsburg – Text von Jessy James LaFleur
Wir sind beide fast gleich alt und ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich
mindestens genauso viel geschafft hab’ wie du, mit 30 Jahren, aber ehrlich gesagt,
bin ich davon meilenweit entfernt.
Ich werde niemals 1,5 Millionen Menschen erreichen, werde niemals 16 Meter
hoch sein, werde niemals sagen können, dass ein Fernand Léger meine Geburt
begleitete, werde niemals als Markenzeichen in den Köpfen der Kunstbegeisterten
kreisen, werde niemals ein architektonisches Ausrufezeichen sein.
Du bist so unfassbar quadratisch, dass Mondrian sich augenblicklich in dich
verliebt hätte, in jeden Millimeter deiner scharfen 40 Meter Seitenlänge, in deine
sexy Pfeiler und deepen Parkhaus-Tiefen.
In flexiblen Wandsystemen kann sich auf 3500 Quadratmetern jedes Herz
hoffnungslos in dir verlieren und so ist auch meines schon vor langer Zeit in deinen
Räumlichkeiten zurückgeblieben.
Weil man sich wohl in dir fühlt, trotz deiner Ecken und Kanten, die zwei Hamburger
Architekten mit nordischer Kühle planten, und so verglasten sie dich, damit der
Kern deines Seins durch Offenheit besticht, damit es die Grenzen zwischen deinem
Inneren und Äußeren verwischt.
Wenn ich dich grüße, nickst du nüchtern zurück, schon fast zu bescheiden, als
wolltest du nicht auffallen, vielleicht weil du denkst, du könntest mit dem Rest der
Kunstwelt nicht mithalten?
Ja, du bist kein Moma, kein Louvre, kein Prado.
Kein Orsay, kein Guggenheim, kein Pergamon.
Du bist nicht London, nicht Berlin, nicht Barcelona, nicht Paris, für viele nicht mal
Großstadt, sondern eher so Provinz.
Für mich bist du du selbst…
…und wer kann das schon von sich sagen?
Du bist kein Poser, sondern ein Macher, kein ehrenloser Prunkbau.
Stellst nicht das eigene Mobiliar, sondern immer die Kunst zur Schau, schenkst
jedem Detail ganz selbstlos den nötigen Raum.
Du bist entscheidend für die Region, besonders für diese Stadt, du bist anders als
die Anderen, weil man sich bewusst für dich entscheidet, du bist kein Punkt auf
einer Touri-Liste, den man einfach wieder durchstreicht.
Aber ich weiß, dass so ein puristisches Dasein nicht leicht ist, so ganz ohne Gold,
Stuck und Klimt.
Weil man an deinen Wänden eben keine Mona Lisa findet.
Keinen Garten der Lüste, keine Perlenohrringe, keinen Seerosenteich, du sonnst
dich nicht im Scheinwerferlicht großer Gemälde, sondern versuchst ein eigenes
Meisterwerk zu sein. Ein eigener Name.
Der keine Venus braucht, um wahre Weiblichkeit zu zeigen, der sich bewusst für
schwierige Themen entscheidet und Künstlerinnen endlich die Bühne verschafft,
die sie seit Tag Eins verdient haben.
Du bist quasi aus dem Nichts entstanden, kennst die Skepsis, kennst den Struggle
und bist 30 Jahre später in Wolfsburg fest verankert.
Schwebst über den Dinge wie ein Wal durchs Wasser, der dennoch hart für
seinen Platz im Kunstozean gekämpft hat.
Der sich etablieren musste zwischen renommierten Häusern, der erstmal spüren
durfte, dass eine Sammlung von über 1000 Werken sich nicht von selbst anhäuft
und dass zwischen Fussballstadion und Autofabrik so ein Kunstmuseum schon fast
ein wenig verloren wirkt, doch wenn wir ehrlich sind, gab es kaum einen besseren
Ort um dich zu errichten.
Weil du Leere gefüllt hast um Welten zu bewegen und Universen zu verbinden.
Deine Retro-Perspektiven brachten Farbe in diese graue Einkaufsstraße, schafften
Fragen, auf die nicht immer alle eine Antwort fanden, aber zumindest ein
Stirnrunzeln.
So bist du immer noch kein Tate und auch kein Humboldt,
keine National Gallery of Art.
Kein Belvedere, kein Albertina
Du bist nicht Hongkong, nicht Madrid, nicht New York City und auch nicht Wien,
für viele nicht mal Großstadt, sondern eher so Provinz, du bist…
Du selbst…
Deine ganz eigene Klasse, so wie diese Stadt, und in meinen verliebten Augen
kannst du mit den anderen Museen aber sowas von mithalten, und wer braucht
schon Klimt oder eine Sternennacht, wenn er dafür Max Beckmann und Kokoschka
ausstellen kann.
Ich wünsche dir von Herzen, dass du deine Werte nie vergisst, dass du die
Menschen, die deine Wandsysteme immer wieder aufs Neue verschieben, jeden
Tag so richtig wertschätzt. Dass du weiterhin mit Offenheit und nordischer Kühle
bestichst, dass die Stadt Wolfsburg dich nie wieder hergibt, weil mein Herz in
deinen Räumen noch immer vergraben liegt.
Über 150 Ausstellungen hast du seit 1994 in diese Stadt gebracht, hast auf deinen
weißen Wände für unzählige Eindrücke Platz gemacht und so verdienst du ein
Gedicht, das dich und deine Entwicklung umreißt, und beginnen werde ich wie
damals mit Fernand Léger, denn der sagte einst:
“Vor allem geht es darum, die Kunst zu lieben, und nicht sie zu verstehen”…
…und ist das nicht der Antrieb, der Rhythmus eines modernen Lebens?
Ich denke es bedeutet Neues wie Vertrautes wirklich wahrzunehmen, doch beim
Anblick der abstrakten Leinwände verstehen viele nur noch Tokyo Novelle,
verspüren High Tech Allergien, weil es in Museen längst nicht mehr nur um
Landscapes und Other Pictures geht.
Kunst nimmt Neue Rollen ein, Between Darkness und Light bist du ein
einzigartiges Wolfsburg Project, das dem Neuanfang, dem Ursprung eines
Raumes gleicht.
Ein Meilenstein, der menschliches Bewegt, als Humanist und Rebell, eine stille
Revolution, die stetig nach vorne strebt.
This was tomorrow, aus gestriger Sicht, in dieser Never Ending Story bist du das
Heute, welches die Zukunft wach küsst.
Weil diese schweren Zeiten zeigen, dass Memory the Weapon ist, drum ist es
wichtig, dass Kunst wieder Teil des Widerstands wird, dass in 2024 auch immer
noch ein bisschen 1968 steckt.
Dass wir Referenz-Räume schaffen, um Gesellschaft zu bewegen.
Mutige Ansätze, um sich immer wieder Re-Inventen zu können auch ohne die
Folgen abzuwägen.
Einfach loslegen und machen, in die Längen des Horizontes am Mittellandkanal
starren, denn dort findet sich genügend Inspiration, auch für die nächsten 30
Jahre.
30 Jahre und ich wünscht’, ich könnte sagen, dass ich mindestens genauso viel wie
du, das Kunstmuseum Wolfsburg, geschafft habe.
30 Jahre! Und ich wünsche dir mit jedem Millimeter meiner 182 Zentimeter den
besten aller Geburtstage, ein Geschenk hab’ ich leider keins, denn mein Herz hast
du ja bereits.
In den Text eingearbeitete Ausstellungstitel:
1994: Fernand Léger – Le rythme de la vie moderne
1994–1995: Man Ray – Neues wie Vertrautes
1995–1996: Nobuyoshi Araki – Tokyo Novelle
1995–1996: Nam June Paik – High Tech Allergy
1996: Jeff Wall – Landscapes and Other Pictures
2006: Neo Rauch – Neue Rollen
2007: Douglas Gordon – Between Darkness & Light
2009–2010: James Turrell – The Wolfsburg Project
2010: Alberto Giacometti – Der Ursprung des Raumes
2013: Christian Boltanski – Bewegt.
2014: Oskar Kokoschka. Humanist und Rebell
2017: This Was Tomorrow. Pop Art in Great Britain
2017: Never Ending Stories
2018: Robert Lebeck – 1968
2019–2020: Robin Rhode – Memory Is the Weapon
2021: Mischa Kuball – Referenz–Räume
2023: Re-Inventing Piet. Mondrian und die Folgen
2023–2024 Kapwani Kiwanga – Die Länge des Horizonts