Welten in Bewegung
30 Jahre Kunstmuseum Wolfsburg
Infos
Ein römischer Kaiser trifft auf einen englischen Popstar, eine Venus von Lucas Cranach auf Benedikte Bjerres Chicken sowie Cindy Shermans Sexpuppen, Pferdekutschen auf einen riesigen Flugapparat. Mit diesen und weiteren überraschenden Begegnungen feiert das Kunstmuseum Wolfsburg sein 30-jähriges Bestehen.
Die große Jubiläumsausstellung präsentiert Highlights aus der hochkarätigen Sammlung des Hauses und zeigt zudem auch erstmals zahlreiche neue Schenkungen. Um die spannenden Dialoge zu zeitlosen und zugleich lebensnahen Themen besonders wirkungsvoll zu inszenieren, wurden besondere „Gäste“ eingeladen: Fünfzehn historische Werke aus dem Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum stellen wir zeitgenössischen Gemälden, Skulpturen sowie Installationen international bekannter Positionen gegenüber, darunter Elizabeth Peyton, Jonathan Meese, Michel Majerus, Andreas Gursky, Gauri Gill, Bruce Nauman, Phyllida Barlow, Panamarenko u.v.m. – ein „Who is Who“ der Gegenwartskunst! Ungewöhnliche Perspektiven auf Körper, Sexualität und Identitäten, familiäre Befindlichkeiten oder gesellschaftliche Werte wie Freiheit und Gleichberechtigung greift die Ausstellung auf; innerhalb von fünfzehn Kapiteln spannt sie einen thematischen Bogen vom Individuellen bis zum Globalen.
Die Jubiläumsausstellung setzt mit der Kooperation mit dem Herzog Anton Ulrich-Museum ein weiteres Zeichen der institutionellen Verbundenheit, um dadurch nicht zuletzt auch Kunst und Kultur in der Region zu stärken. Durch die Gegenüberstellungen der Werke aus beiden Museen ergibt sich eine lebendige Auseinandersetzung mit den Konstanten wie auch mit den Variationen unserer Lebenswelt.
Ausstellungsrundgang
Raumwunder
The space is where you’ll find it [Der Raum ist, wo man ihn findet] lautet der Titel der Installation von Michel Majerus, durch die man die Ausstellung betritt. Räume bestimmen unser Dasein. Ihre Gestaltung wirkt auf unser Bewusstsein. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit waren es Kathedralen wie die Nieuwe Kerk [Neue Kirche] in Amsterdam auf dem Gemälde von Emanuel de Witte (um 1617−1692), deren Raumerlebnis die göttliche Botschaft der christlichen Kirche unterstreichen sollte. Heute werden oft Museumsbauten als die Kathedralen der Gegenwart bezeichnet. Die Vielfalt von Raumerfahrungen spiegelt sich in den Werken dieses Ausstellungsraumes: In der Gehäusegravur von Pia Linz hat die Künstlerin ihr Atelier von innen auf die Scheiben des Plexiglasgehäuses gezeichnet, sodass es wie ein immaterielles Modell ihres Studios erscheint. Bruce Nauman lotet mit seinem Körper das Verhältnis von Wand und Boden aus, während Adam Putnam sich in seine Möbel hineinzwängt, um deren Innenraum in ein Verhältnis zu seinem Körpervolumen zu setzen. Erwin Wurm hingegen gibt den Besuchenden dieses Raumes Anweisungen, wie sie sich als lebendige „Skulpturen“ gegenüber dem Raum und seinen Möbeln zu positionieren, zu verhalten haben.
Wer bist du?
Römische Kaiser wurden nach ihrem Tod als Götter verehrt, manche von ihnen sogar noch zu Lebzeiten. Hierauf spielt auch die Marmorbüste Kaiser Hadrians (76–138 n. Chr.) an. Heute hingegen sind es neben gekrönten Häuptern vor allem Idole aus der Film- und Musikszene, die Elizabeth Peyton mit ihrer farbenfrohen Malerei unsterblich macht. Das Gegenteil hiervon findet sich in dem lebensgroßen Metallkopf des Künstlers Christian Keinstar: Auf seine eigene Vergänglichkeit verweist er dadurch, dass sich sein Kopf aus Gallium schon bei wenig erhöhter Temperatur des Sockels verflüssigt und verschwindet.
Nam June Paik hat mit Andy Warhol Robot seine Bewunderung für den verstorbenen Künstler-Kollegen zum Ausdruck gebracht. Mette Tronvoll stellt junge Frauen, die in Großstädten leben, betagten Frauen vom Land gegenüber. Die Eindeutigkeit von Geschlechtlichkeit hinterfragt Tejal Shah in ihrer Serie Women Like Us [Frauen wie wir], während für die United Enemies [Vereinten Feinde] von Thomas Schütte „fiese alte Männer“ als Vorbilder gedient haben. Und dass es nicht immer gelingt, Gesichter zu erinnern, sieht man an dem weitgehend leeren Bild Hair [Haar] von Luc Tuymans: Hier ist es nur noch die Frisur, die dem Maler von dem Menschen in Erinnerung geblieben ist. Geradezu überzeitlich erscheint hingegen das Gesicht mit den drei emotionslos blickenden Metallaugen in dem Bildnis A.O.: INRI (The Measurement of Sensation) [Die Messung von Empfindung] von Thomas Zipp. Der Titel und das Millimeterpapier als Bildgrund hinterfragen die Messbarkeit von Gefühlen.
Körpersprache
Nur mit einem nahezu unsichtbaren Schleier, Hut und goldenen Ketten „bekleidet“, tritt die Venus von Lucas Cranach d. Ä. in Erscheinung. Die römische Göttin der Liebe und Schönheit ist eine wiederkehrende Figur in den Gemälden von Cranach und Metapher der Sinnlichkeit, der weiblichen Anziehungskraft und der Entstehung neuen Lebens. Wie bei der Venus in dem Gemälde von Cranach ist auch die Darstellung der Frauen in Nobuyoshi Arakis Serie Tokyo Novelle durch Sinnlichkeit und Anziehungskraft geprägt. Kinbaku-bi, in etwa zu übersetzen als „die Schönheit der festen Bindung“, ist eine japanische Bondage-Technik, bei der es um die Ästhetik und Darstellung des Körpers geht. In der Scherenschnitt-Arbeit von Stefan Thiel bleibt dieser Körper abwesend, seine Form wird lediglich durch die Anordnung der geometrischen Formen angedeutet, die sich zu einer Art Netzstrumpfhose zusammensetzen. Auch in den zwei Fotografien aus Cindy Shermans Serie Sex Pictures ist der menschliche Körper abwesend, ersetzt durch anatomische Puppen, die von der Künstlerin in pseudo-pornografischen Bildern arrangiert werden. Sie bieten einen Anlass, um über die Künstlichkeit, die Absurditäten und die gelegentliche Gewalt der Pornografie nachzudenken. Fuck von Gilbert & George ist Teil ihrer Serie Dirty Words und zeigt unter anderem die Gesichter der Künstler, die Dächer Londons und eine angedeutete Szene der Prostitution. Am Ende bleibt es zweideutig – handelt es sich bei dem Titel nun um einen Fluch oder eine Aufforderung?
Familienangelegenheiten
Vier Majolika-Teller aus dem 16. und 17. Jh. zeigen Szenen aus der biblischen Erzählung von Jacob und seinen zwölf Söhnen. Die Erzählung lässt sich als einer der frühesten Berichte einer zerrütteten Familie lesen. Josef, der zweitjüngste Sohn, wird von seinem Vater bevorzugt und zieht so den Zorn der Brüder auf sich. Die Majolika-Teller zeigen unter anderem, wie die Brüder versuchen, Josef in einem Brunnen zu ertränken, und wie er von ihnen später nach Ägypten verkauft wird. Auch die Fotografien von Richard Billingham sind weit entfernt von der Vorstellung einer idealen Familie – ungeschönt und geradezu brutal ehrlich zeigt Billingham in der Serie Ray’s a Laugh sein Elternhaus nahe Birmingham, das von Armut, Chaos und einem chronisch alkoholabhängigen Vater geprägt ist. Die Vaterfigur spielt auch im Œuvre von Jonathan Meese eine wichtige Rolle, ihr ambivalenter Charakter wird in Babydolls Vater (Not am Mann) bereits durch den Titel deutlich. Dem entgegen vermitteln drei Fotografien von Antanas Sutkus aus den 1960er-Jahren ein kindliches Gefühl der Geborgenheit an der Hand der Eltern, ein Vertrauen in Erwachsene, zu denen man, hier im wahrsten Sinne des Wortes, hinaufschaut.
Unter Leuten
Es kann mitunter ganz schön hoch hergehen, wenn man sich „unter die Leute“ begibt – so zeigt es zumindest die Radierung Night [Nacht] von William Hogarth, in der wir eine ganze Reihe von nächtlichen Geschehnissen beobachten können, durchaus humorvoll und dabei gesellschaftskritisch zugespitzt.
Auch In Sook Kims Saturday Night [Samstag Nacht] bildet das mal mehr, mal weniger wilde nächtliche Treiben ab, wie es in der Anonymität eines Hotels vonstattengehen könnte. Die Situation des Nebeneinander, ohne voneinander Notiz zu nehmen, wird von Bruce Nauman noch verstärkt – seine Köpfe blicken, trotz unmittelbarer Nähe, stets aneinander vorbei. Dagegen tritt in den Fotografien von Rebecca Lewis, die uns in die Subkultur der sogenannten Mods in England entführen, das Gefühl der Gemeinschaft hervor: Geeint durch ästhetische und habituelle Codes zitieren die Mods mit großer Liebe zum Detail die 1960er-Jahre.
Situationen von Gemeinsamkeit zeigt auch Gauri Gills Serie Acts of Appearance [Handlungen des Auftretens]. In den Fotografien rückt sie die indigene Bevölkerung der Adivasi in einem indischen Dorf in den Fokus. In Zusammenarbeit mit den Dorfbewohner*innen inszeniert sie eigens hergestellte Masken, um banale Alltagssituationen in theatralisierte Handlungen umzuwandeln – halb Traum, halb Wirklichkeit.
Ulrike Behrends Diptychen zeigen Momente des Erwachsenwerdens und des Sich-Zurechtfindens in der Gesellschaft. Sie schwanken zwischen Melancholie und Ausgelassenheit. Bei Jeff Koons werden gesellschaftliche Rollen auf den Kopf gestellt, wenn der überdimensionale Plüschbär im gestreiften Oberteil dem uniformierten Polizisten, der eigentlich für Macht und Autorität steht, die Trillerpfeife abnimmt. Im Dialog macht Timm Ulrichs’ rote Neonschrift deutlich, wie nahe Liebe und Aufstand in unserer Gesellschaft beieinanderstehen.
Formen der Natur
Seitdem der Mensch begonnen hat, sich die Natur anzueignen, ist diese einer wachsenden Überformung unterworfen. Dies geschieht teils idealisierend, wie in Willem van Nieulandts Italienischer Flusslandschaft (um 1625−1630) mit der Darstellung von antiken Ruinen. Deutlicher noch macht sich die Überformung der Natur jedoch in der Umsetzung wirtschaftlicher Interessen bemerkbar, wie in Andreas Gurskys Fotografie der künstlichen Landgewinnung für den Hafen von Singapur, wo sich heute Wolkenkratzer drängen. Aber auch die landwirtschaftliche Nutzung, wie sie in Timm Ulrichs’ Getarnte Landschaft anklingt, verleiht der Erdoberfläche eine eigene Prägung.
Das sich ständig erneuernde Leben steht im Mittelpunkt der Installationen von Mario Merz, der mit seinem spiralförmigen Tisch und seiner Wandarbeit Leone di Montagna [Berglöwe] das in der Fibonacci-Zahlenreihe abgebildete Wachstumsgesetz zum Ausdruck bringt: Reisig, Obst und Gemüse beziehungsweise Berg, Baum und Tier verweisen hier auf die Lebensgrundlage des Menschen. Das von Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci (um 1170 bis nach 1240), entdeckte Wachstumsgesetz manifestiert sich in der Form von Schneckenhäusern ebenso wie in der Entwicklung von Kaninchenpopulationen. Mit einem Augenzwinkern spielt auch Nam June Paiks Videoinstallation Egg Grows [Das Ei wächst] auf das Wachstumsprinzip an, das sich auch in Benedikte Bjerres Hühnerschar wiederfindet.
Urbanes Leben
Über drei Viertel der Bevölkerung in Deutschland leben heute in Städten – eine gänzlich andere Situation als zu Zeiten von Hendrick van Steenwyck d. Ä. im 16. Jahrhundert. Dennoch zeigt sein Marktplatz mit Aachener Münster und Rathaus eine menschengefüllte Stadtszene, die sich zum Teil gar nicht so sehr von dem urbanen Treiben heute unterscheidet.
Eher leer wirken dagegen die Straßen Wolfsburgs in Douglas Gordons Psycho Hitchhiker (Coming or Going) [Psycho-Anhalter (Kommen oder Gehen)]. Die Menschen in ihren Autos scheinen nicht für den Anhalter stoppen zu wollen, der mit seinem nackten Oberkörper und dem Schild mit der Aufschrift „Psycho“ wohl ein eher unheimliches Bild abgibt. Gordon thematisiert hier die empfundene Gefahr des Fremden im städtischen Raum. Die Straße als Bild urbanen Lebens stellen auch Gilbert & George in der großformatigen Arbeit Roads [Straßen] in den Mittelpunkt. Vor den Stadtautobahnen spazieren und posieren junge Männer in leuchtend bunter Kleidung und vermitteln so das Bild einer lebendigen und pulsierenden Großstadt. Dass diese bisweilen auch eine ganz schön überfordernde Wirkung haben kann, spiegelt sich in den verzerrten Gesichtern der beiden Künstler.
Weltbilder
Das Bild, das wir uns von der Welt machen, ist geprägt von der Zeit und den äußeren Umständen, unter denen wir leben. So zeigt Abraham Willaerts’ Strandbild mit Kirchturm (1653) Schiffe, wie sie im 17. Jahrhundert von den Niederlanden aus in See stachen, um die Welt zu „entdecken“, und trägt so aus heutiger Sicht deutliche Spuren des europäischen Imperialismus und Kolonialismus. Dessen Auswirkungen, insbesondere auf die indigene Bevölkerung Nordamerikas, macht Natalie Ball in detailreichen Assemblagen wie Stick Horse [Steckenpferd] zum Thema. Stereotypischen Vorstellungen setzt sie multiperspektivische Weltbilder entgegen. Auch Christopher Kulendran Thomas hinterfragt das westliche Kunstsystem und seine Werte, wenn er Werke von Künstler*innen aus Sri Lanka erwirbt und diese kritisch umgestaltet. Er macht mit ihnen deutlich, dass sie geschaffen wurden, um dem Geschmack des westlichen Kunstmarktes zu entsprechen. Durch den Kauf und die Umgestaltung beeinflusst er gezielt den internationalen Kunstmarkt – die entstehenden Geldflüsse lenkt er in Projekte zur Unterstützung von Menschen, die durch den Bürgerkrieg in Sri Lanka vertrieben wurden.
Andreas Gurskys Dubai World III [Dubai-Welt III] zeigt den Größenwahn moderner Bauvorhaben am Beispiel eines Projekts in dem Emirat, bei dem die Welt in Form künstlicher Inseln neu erschaffen werden soll. Dem stellt Mariana Vassileva ein Bild entgegen, das sich auch in Bezug auf den menschlichen Ressourcenverbrauch lesen lässt – die ausgebeutete Welt als traurige Pfütze. Georg Herold setzt mit seinem Weltbild 2000 auf eine kalkulierte Unfertigkeit, die in der Zusammenstellung von Holzlatten die scheinbare Selbstverständlichkeit von Weltbildern ironisch hinterfragt. Der Wunsch nach friedlicher Koexistenz verschiedener Weltanschauungen findet sich auf Burhan Doğançays Big Berlin Wall, bei der auf der Berliner Mauer, einst Symbol für Trennung, die vier Weltreligionen zusammenfinden.
Eine Frage der Gerechtigkeit
In einem großen Bogen entledigt sich die Welt der Gerechtigkeit – so zeigt es zumindest ein Druck von Dirk Volkertszoon Coornhert aus dem Jahr 1550. Die Welt, symbolisch als ein sich aufbäumendes Pferd dargestellt, wirft die Gerechtigkeit in Gestalt der römischen Göttin Justitia ab – offenbar eine Kritik an der kaiserlichen Unterdrückung in den Niederlanden zur damaligen Zeit.
Tejal Shahs Unbecoming VIII [Ungewordene] zeigt ebenfalls eine Form von politischem Protest. Shah greift hier auf das Foto eines tibetischen Mönches zurück, der sich 2014 in einem Akt des Protestes gegen die repressive Politik der chinesischen Regierung selbst verbrannt hat. Die Künstlerin konfrontiert uns so mit dem Gefühl der Ausweglosigkeit des Individuums angesichts der Ungerechtigkeiten staatlicher Mächte. Auch Serge Attukwei Clottey thematisiert in seinem Werk mit der Verwendung von Teilen gelber Plastikkanister Fragen globaler (Un-)Gerechtigkeit. Ursprünglich für den Import von Öl aus Europa nach Ghana verwendet, wurden die Kanister bei Dürre auch als Wasserbehälter eingesetzt, und erzählen so von globalen Ungleichgewichten in Bezug auf Ressourcenknappheit, Auswirkungen der Erderwärmung und neokolonialen Prozessen. Der Titel der Kohlezeichnung Queer Notion of Justice [Seltsame Vorstellung von Gerechtigkeit] weist vor diesem Hintergrund wohl auf einen Mangel an Gerechtigkeit gegenüber Schwarzen Menschen hin. Als Personifikationen des Rechts treten bei Pieter Hugo Mitglieder des ghanaischen Obersten Gerichtshofes ins Bild. Dabei ist auffällig, wie sehr sich bis heute in der Verwendung der Roben und Perücken die Einflüsse der ehemaligen britischen Kolonialherrschaft zeigen. Bruce Nauman rückt in seiner Videoarbeit, in der er sich abwechselnd mit schwarzer und weißer Farbe schminkt, Fragen zu Diskriminierung und Rassismus in den Fokus.
Erinnerung
Die Erinnerung bestimmt unser Bewusstsein. Ohne sie gäbe es keine Zivilisation, keine Gesellschaft, keine Zukunft. Das Erinnern ist entscheidend für unsere Identität und schafft ein Gefühl der sozialen Zugehörigkeit.
In der griechischen Mythologie war Mnemosyne die Göttin der Erinnerung und die Mutter der neun Musen. Nach ihr benannte der deutsche Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Aby Warburg (1866−1929) ein ambitioniertes Forschungsprojekt, seinen Bilderatlas. In diesem versuchte er mithilfe von Bildtafeln, das vielfältige Weiterleben der Antike in der europäischen Kultur anschaulich zu machen. Rund einhundert Jahre später stellt Mischa Kuball in seiner gleichnamigen Videoinstallation die Rekonstruktionsversuche dieses unvollendeten Projekts in den Mittelpunkt. Hierbei wird deutlich, dass es sich bei Warburgs Bilderatlas um eine Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses handelt, zu deren Zeugen wir als Betrachtende werden. In einem weiteren Projekt, seiner Serie research_desk_Nolde/Kritik/Kuball, setzt sich Kuball kritisch mit der Rezeption des Werks des Malers Emil Nolde (1867−1956) auseinander.
Dass sich Kultur der Überlieferung und damit der Erinnerung verdankt, wird auch in der Fotoserie von Sharon Lockhart aus dem Nationalmuseum für Anthropologie in Mexico-Stadt deutlich. Hier zeigt sich, dass das Museum als Ort des Bewahrens und Vermittelns durch Architektur, Ausstellungsdesign und Texte wie Beschriftungen und Erläuterungen immer auch den Rahmen vorgibt, in dem diese Artefakte verstanden und erinnert werden. Auch die zwölf gemalten Echtheitszertifikate von Sandra Gamarra verweisen darauf, dass sich kulturelles Bewusstsein Konstruktionen und vorgegebenen Strukturen verdankt.
Wir, das Volk
„Freiheit erfordert Gleichheit“, so die Theoretikerin Hannah Arendt (1906–1975). Auf dem Gemälde Das Königliche Hochzeitsmahl von Frans Francken d. J. aus dem 17. Jahrhundert lädt ein König Leute von der Straße zum Hochzeitsmahl seines Sohnes ein. Diese ungewöhnliche Geste aus dem biblischen Gleichnis des Matthäus-Evangeliums beruht auf einer christlich begründeten Vorstellung von Gleichheit. Sie wird hier Werken gegenübergestellt, die sich auf politische und gesellschaftliche Grundwerte der jüngeren Geschichte beziehen.
So zeugen die Fotografien von Robert Lebeck von den politischen Ereignissen des bewegten Jahres 1968, das einen Umbruch in der westlichen Hemisphäre einläutete. Hammer und Sichel als Zeichen des Kommunismus werden von Georg Herold nach dem Fall der Berliner Mauer als leere Symbole entlarvt, während Andreas Gurskys Bundestag die gewählten Volksvertreter*innen im Gespräch zeigt. Der vietnamesische Künstler Danh Vō lässt die amerikanische Freiheitsstatue nachbauen und in Einzelteile zerlegen, die er nach den ersten drei Worten der Verfassung der Vereinigten Staaten We The People [Wir, das Volk] betitelt. Goran Tomčićs schillerndes Bild Say Something [Sag‘ etwas] entstand als Reaktion auf die staatlichen Maßnahmen in New York nach dem Anschlag am 11. September 2001, während Mariana Vassilevas Mikrofon wie eine Handgranate geformt ist und auf die möglicherweise explosive Wirkungen von Worten verweist. Die Arbeiten bezeugen auf vielfältige Weise das Streben nach den Grundwerten und dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen.
Wirtschaftsgipfel
Die Felsenlandschaft mit zwei Arbeitern, die Tobias Verhaecht zugeschrieben wird, gehört zu den häufigen Darstellungen arbeitender Menschen im 17. Jahrhundert. Diese geben einen Einblick in das tägliche Leben, in die Berufe und in die sozialen Strukturen der damaligen Zeit. Dabei handelt es sich nicht immer um eine realistische Darstellung des tatsächlichen Arbeitslebens, sondern sie enthalten oft idealisierte oder symbolische Elemente, wie die Stadt im Hintergrund, die Wohlstand und Reichtum verheißt.
Wie ein Kommentar zum sogenannten „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit hingegen wirkt der Dreiakter von Thomas Schütte: erst die Massenproduktion in düsterer Atmosphäre, dann das VW-Emblem als Symbol der wirtschaftlichen Entwicklung und schließlich wehende Fahnen vor blauem Hintergrund, die Jubel und Zuversicht vermitteln. Auch Andreas Gurskys leere Prada-Vitrine verheißt erfolgreiches Marketing, doch scheint die Marke wichtiger zu sein als das austauschbare Produkt, das darin gefeiert wird. Sein Diptychon, das die Börse in Hongkong zeigt, macht den fragwürdigen Stellenwert der Menschen deutlich, die hier in ein global gewordenes Wirtschaftssystem eingebunden sind: Sie agieren als Nummern, eingepfercht in ein Gefüge aus Datenmaschinen. Wer dient hier wem?
Auch Neo Rauchs Gemälde Handel wirft einen kritischen Blick auf das Geben und Nehmen: Die Kundin hat sich an der angebotenen „Ware“ die Hand verbrannt. Im Lager von Benedikte Bjerre hingegen gibt es nichts zu kaufen. Die aufgeblasenen Koffer stehen für den globalen Massentourismus und seine fragwürdigen Errungenschaften.
Grenzen und Träume
Wie alt das Thema von Flucht und Migration ist, zeigt sich beim Blick auf eine Radierung von Charles Nicolas Cochin. Die Darstellung der Israelit*innen bei der Durchquerung des Roten Meeres scheint vor dem Hintergrund der anhaltenden Flucht nach Europa auf bedrückende Weise bekannt. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) beklagt allein für das Jahr 2023 den Tod von mehr als 3.000 Menschen bei ihrer Flucht über das Mittelmeer.
In diesem Kontext lässt sich die Serie Unbecoming [Ungewordene] von Tejal Shah verorten. Behutsam transformiert sie Fotografien von Menschen, die auf der Flucht mit dem Boot zu Tode gekommen sind, in detaillierte, handkolorierte Figuren und legt dabei das Scheitern von Grenzüberwindungen infolge von Flucht und Migration offen. Anna Malagrida zeigt in ihrer Serie Les Mains [Die Hände] die angespannte Gestik von Spieler*innen eines Wettbüros für Pferderennen in Paris. Es sind überwiegend nordafrikanische Migrant*innen, in deren Erzählungen sich das Träumen und die dem Glücksspiel innewohnende Hoffnung mit dem Wunsch nach einem besseren Leben verbinden, welcher der Migration oft zugrunde liegt.
Der Maschendrahtzaun, der in der Arbeit Politics of Space [Politik des Raumes] von Awst & Walther auf einen Spiegel gedruckt ist, macht uns gleichzeitig zu Ein- und Ausgeschlossenen. Den Bezug zur deutschen Geschichte ruft die Gegenüberstellung mit Jörg Immendorffs Kleine Reise (Hasensülze) in Erinnerung, der sich ein Jahr nach dem Mauerfall, 1990, mit der ehemaligen innerdeutschen Grenze befasst. Über allem schwebt, von Goran Tomčić aus holografischer Folie zusammengesetzt, am blauen Himmel das Flugzeug, zynisch glänzendes Freiheitsversprechen grenzenlosen Reisens.
Zukunftsvisionen
Die Frage nach der Zukunft war bereits im antiken Griechenland derart aktuell, dass es im Land mehrere Orakel (von lateinisch oraculum „Götterspruch, Sprechstätte“) gab. Die Griechen und Römer glaubten, dass sich an diesen Orten Götter zeigen und die Zukunft voraussagen. Als Orakel bezeichnet man seitdem eine mithilfe eines Rituals oder eines Mediums gewonnene transzendente Offenbarung, die der Beantwortung von Zukunfts- oder Entscheidungsfragen dient. Als Orakel ist auch die Radierung von John Dixon aus dem Jahr 1774 betitelt, in welcher die als Engel personifizierte Zeit mittels einer sogenannten Laterna magica (ein vormodernes Projektionsgerät) das Bild einer zukünftigen Situation auf die Wand projiziert.
Auch die Eule auf Ann Lislegaards großem LED-Bildschirm scheint etwas über die Zukunft zu wissen. Der Titel Oracles, Owls… Some Animals Never Sleep (Borealis) [Orakel, Eulen… Manche Tiere schlafen nie (Borealis)], 2021, lässt bereits ahnen, dass es sich um kein natürliches Tier handelt. Seine Rede ist schwer interpretierbar und wird immer wieder von technischen Störgeräuschen verzerrt oder unterbrochen. Bei genauerem Hinhören wird unter anderem der Bezug zu Ridley Scotts Science-Fiction-Film Blade Runner deutlich, in dem es um die Fälschung der Wirklichkeit und um zeitgenössische Realitätsauffassungen geht.
Unbehagen bereitet auch das an der Decke des Raumes befestigte Objekt mit drei objektivartigen Elementen, dem Phyllida Barlow den Untertitel Security Camera [Überwachungskamera] gegeben hat und das jede Bewegung im Raum zu registrieren scheint.
Unterwegs zu neuen Zielen
Mobilität und mit ihr das Reisen wird heute von vielen als Grundrecht eingefordert. Wie man auf dem Jacques Fouquier zugeschriebenen Gemälde Gebirgslandschaft mit Reisewagen sehen kann, war das Reisen per Reisewagen und Bauernkarren im 17. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht noch eine beschwerliche Angelegenheit. Man reiste nur, wenn es triftige Gründe gab, die meist beruflicher Natur waren. Die touristische Nachfrage, das Reisen als Selbstzweck, entstand erst im Europa des 18. Jahrhunderts. Die heute weitverbreitete Reiselust ist eine Entwicklung der Moderne.
Für das Unterwegssein hat Eberhard Havekost mit seinem gemalten Blick aus dem Zugfenster ein einprägsames Bild geschaffen: Solange man das Bild betrachtet, quasi selbst aus dem Fenster schaut, ist man unterwegs. Man hat einen Ort verlassen und ist noch nicht am Ziel. Es ist ein Zustand der zeitlichen Schwebe, den Havekost hier erzeugt.
Seit 1991 fertigt Franz Ackermann auf seinen zahlreichen Reisen Mental Maps [geistige Landkarten], kleinformatige Aquarelle und Gouachen, die Kern seines vielschichtigen Werks sind. In einer Verschmelzung von kartografischen Strukturen, Ortsansichten und wuchernder Ornamentik hält er seine Eindrücke fest und verweist damit auf die enge Verflechtung von Globalisierung, Mobilität und Tourismus.
1967 realisierte Panamarenko seinen ersten Flugapparat und nannte ihn Das Flugzeug. Dabei ging es ihm jedoch „nicht darum, ein funktionierendes Flugzeug zu konstruieren, sondern um die Schaffung eines Ideals.“ (Panamarenko) Es ist die Fantasie, mit der man sich bewegt.
Künstler*innen der Ausstellung
Franz Ackermann, Nobuyoshi Araki, Richard Artschwager, Awst & Walther, Natalie Ball, Phyllida Barlow, Ute Behrend, Richard Billingham, Benedikte Bjerre, Hussein Chalayan, Serge Attukwei Clottey, Charles-Nicolas Cochin d. Ä., Dirck Volckertszoon Coornhert, Tony Cragg, Lucas Cranach d. Ä., Domenico da Venezia, Emanuel de Witte, Jan Dibbets, John Dixon, Burhan Dogançay, Sophie Erlund, Jacques Fouquier, Frans Francken d. J., Sandra Gamarra Heshiki, Gilbert & George, Gauri Gill, Liam Gillick, Douglas Gordon, Andreas Gursky, Eberhard Havekost, Ulrich Hensel, Georg Herold, William Hogarth, Jörg Immendorff, Christian Keinstar, In Sook Kim, Thoralf Knobloch, Jeff Koons, Mischa Kuball, Christopher Kulendran Thomas, Robert Lebeck, Rebecca Lewis, Pia Linz, Ann Lislegaard, Sharon Lockhart, Michel Majerus, Anna Malagrida, Jonathan Meese, Mario Merz, Bruce Nauman, Nam June Paik, Panamarenko, Elizabeth Peyton, Prajakta Potnis, Adam Putnam, Neo Rauch, Mariela Scafati, Thomas Schütte, Tejal Shah, Cindy Sherman, Antanas Sutkus, Stefan Thiel, Goran Tomcic, Mette Tronvoll, Luc Tuymans, Timm Ulrichs, Willem van Nieulandt, Hendrick van Steenwyck d. Ä., Mariana Vassileva, Tobias Verhaecht, Danh Vō, Abraham Willaerts
Kurator
Holger Broeker
Kuratorische Assistenz
Veronika Mehlhart
Presse
„Eine gelungene Selbstpräsentation dieses Hauses, das nach 30 Jahren seine Rolle in der Stadt, der Region und darüber hinaus gefunden zu haben scheint.“
Alexander Menden, Süddeutsche Zeitung, 11. Juni 2024
„Über 1000 Werke gehören zur Sammlung des Kunstmuseums Wolfsburg. Bei einer Schau zum 30-jährigen Bestehen werden einige der Highlights ausgestellt.“
dpa, Osnabrücker Zeitung, 27.5.2024
„Der Dialog zwischen den Epochen macht einen besonderen Reiz dieser Schau aus.“
Stefan Arndt, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 6.6.2024
„Seit drei Jahrzehnten lockt das Haus mit zeitgenössischer Kunst.“
Maurice Arndt, Thüringer Allgemeine, 5.6.2024