John Chamberlain
Current Work and Fond Memories. Skulpturen und fotografische Arbeiten 1967-1995
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Zerknülltes Blech. Gequetschte, geknautschte, durch die Schrottpresse gejagte Karosserieteile großer amerikanischer Limousinen und Trucks: Das ist das Material John Chamberlains. Seit fast vierzig Jahren baut der 1927 in Indiana, USA, geborene Bildhauer aus sperrigen Autoblechen Skulpturen, die mal schwer und wuchtig, mal leichtfüßig und tänzerisch daherkommen und die besonders in jüngster Zeit von einer geradezu verführerischen Farbigkeit sind, grellbunt und schillernd oder in strengem Schwarzweiß.
Chamberlains erste Skulptur aus Autoteilen entstand 1957, als er auf dem Grundstück des Malers Larry Rivers in Long Island Teile eines alten Fords entdeckte. Bis dahin eher von der abstrakten Stahlplastik eines David Smith beeinflusst, faszinierten Chamberlain vor allem die farbigen Oberflächen der Autobleche. Seine Skulpturen und Reliefs, Collagen aus farbigen Blechen, sind Teil dessen, was Donald Judd 1965 mit Blick auf die damalige Kunstentwicklung „Spezifische Objekte“ nannte: Arbeiten auf der Grenze zwischen Bild und Skulptur. Denn obwohl Chamberlain nicht zufällig Autoschrott verwendet, geht es ihm um mehr als darum, Assoziationen an die motorisierte Konsumgesellschaft hervorzurufen.
Die Ausstellung setzt ein mit einigen Hauptwerken aus den Sechziger- und Siebzigerjahren: „Papagayo“, 1967, aus galvanisiertem Stahl gefertigt, oder die „Sockets“, zusammengepresste und farbig gefasste Ölfässer. Wie weit Chamberlain jedoch die Verwandlung des profanen Autoschrotts getrieben hat, wird gerade in den jüngeren Werken, wie beispielsweise „Divine Ricochet“, 1991, oder „Borgerette“, 1995, deutlich, in denen das spröde Stahlblech bisweilen wie gefaltetes Glanzpapier anmutet. Die Bewegtheit der Skulpturen, ihre dynamische Form, ihr scheinbar jede Schwerkraft negierendes Volumen, all das verleiht den Arbeiten der letzten Jahre eine geradezu barocke Überschwänglichkeit.
Daher legt die gemeinsam mit dem Stedelijk Museum Amsterdam erarbeitete Ausstellung den Schwerpunkt auf die Achtziger- und Neunzigerjahre. Wolfsburg zeigt darüber hinaus erstmals eine Reihe von kleinen und kleinsten Skulpturen, „Baby Tycoons“, die 1990/91 entstanden sind. Chamberlains spielerischer, poetischer Umgang mit dem Material wird in diesen skulpturalen Miniaturen besonders deutlich.
Das prozesshafte, zeitliche Element in Chamberlains Arbeit äußert sich darüber hinaus in seiner Beschäftigung mit Film und Fotografie. So wie seine Filme der späten Sechzigerjahre, etwa „The Secret Life of Hernando Cortez“ von 1968 eher mit Andy Warhols Undergroundfilmen als mit dem Erzählkino Hollywoods zu tun haben, zeichnen auch die in der Ausstellung versammelten Fotos von 1990–94 eher die spontanen Bewegungen des Künstlers auf, als dass sie ein Motiv beschreiben. Mit der Widelux-Kamera in der Hand durchwandert Chamberlain sein Atelier, den Broadway, Straßen in Paris und Amsterdam, dreht sich, tänzelt und erhält so Bilder, in denen sich die Welt in verwirrende Farb- und Lichtspuren auffaltet und nebenbei wie eine einzige große Chamberlain-Skulptur aussieht: „Alle meine Skulpturen nehmen eine Haltung an; ich gebe sie ihnen. Wenn ein Stück vornübergebeugt ist, dann ist das meine Haltung. Wenn es auf einem Bein tanzt oder wenn es sogar im Sitzen tanzt, dann hat es eine leichtfüßige Haltung. Was ich mache, sieht nicht aus wie schwere Autoteile, die gegen eine Wand aufgestapelt sind.“
Chamberlain hat seine künstlerische Position in den frühen Sechzigern ausgeprägt, und als Ausdruck dieses Aufbruchsjahrzehnts sind seine Arbeiten (wie übrigens auch die Skulpturen Carl Andres) heute fast klassisch zu nennen. Dennoch haben sie nichts Abgeklärtes. Mit ihrem Optimismus und ihrer Vitalität bewegen sie sich im Rhythmus des modernen Lebens von heute.
Katalog:
John Chamberlain. Current Work and Fond Memories. Sculptures and Photographs 1967–1995/Skulpturen und fotografische Arbeiten 1967–1995
Texte von Marja Bloem, Rudi Fuchs, Donald Judd und John Yau. Mit einem Gespräch zwischen Julie Sylvester und John Chamberlain (dt./engl.)
17 x 29 cm, 124 S., 31 s/w und 27 farbige Abb.
Amsterdam und Wolfsburg 1996
ISBN 3–9804827‑2–3
vergriffen