Pietro Donzelli
Das Licht der Einsamkeit
Infos
Obwohl der italienische Fotograf Pietro Donzelli (1915–1998) bereits 1951 an der epochemachenden Ausstellung „Subjektive Fotografie“ in Saarbrücken teilnahm, ist ihm erst heute erstmals eine Museumsausstellung in Deutschland gewidmet. Einige Fotos von Donzelli wurden bereits 1995 im Kunstmuseum Wolfsburg im Rahmen der Ausstellung „Italienische Metamorphose, 1943–1968“ gezeigt. Angesichts der Qualität seiner Fotos ist es erstaunlich, dass seine Arbeiten so selten zu sehen waren. Zum Teil ist das auf die Bescheidenheit des Künstlers zurückzuführen und vielleicht auch auf seinen relativ späten Einstieg in das Metier: Erst 33-jährig fing er an zu fotografieren. Von 1934 an arbeitete er bis zu seiner Pensionierung bei der italienischen staatlichen Telefongesellschaft als Organisator und Archivar der Fotothek, wodurch er sich seine finanzielle Unabhängigkeit sicherte. Aufgrund seiner Persönlichkeit hat sich Donzelli vom modernen Kunstmarkt ferngehalten und ist vielleicht auch aus diesem Grund nicht so bekannt, wie es seinen Arbeiten gebührt.
Mit unserer – etwa 120 Fotos umfassenden – Ausstellung „Das Licht der Einsamkeit“ tritt nun der einundachtzigjährige Künstler aus dem Schatten der nur dem Fachpublikum bekannten Fotografen. Um seine Arbeit auch dem breiteren Publikum bekanntzumachen, erscheint die ausstellungsbegleitende Publikation als erste, auch international zugängliche Monografie.
Die wichtigsten Arbeiten Donzellis entstanden in der Nachkriegszeit, den Fünfziger- und Sechzigerjahren, als der italienische Neorealismus neue Ausdrucksformen in der bildenden Kunst, dem Film und der Fotografie entwickelte. Eine zeitgemäße Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen, Spannungen und Gegensätze. Doch für Donzelli, wie auch für Luchino Visconti, bildeten die poetisch-realistischen Filme des französischen Regisseurs Jean Renoir eine besondere Inspirationsquelle.
Die Ausstellung „Das Licht der Einsamkeit“ konzentriert sich auf einige reportageartige Serien, die in Zusammenarbeit mit dem Direktor des Museums für Moderne Kunst Frankfurt, Jean-Christophe Ammann ausgewählt wurden. Diese Fotoreportagen sind in den verschiedensten Provinzen Italiens entstanden: Kalabrien, Sardinien, Sizilien und Landschaftsstrukturen aus dem Umland von Siena (Crete Senesi). Er dokumentiert darin auf eine sehr eigenständige Weise das Leben und die Arbeitsbedingungen der meist ländlichen Bevölkerung. Doch finden sich auch – wie in seinen Serien Neapel und Mailand – Berichte über das Leben in der Stadt, wie es sich nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges auf typisch italienische Art normalisierte. Die umfangreichste Serie Terra senz’ombra (Land ohne Schatten) die er Anfang der Fünfzigerjahre in der Poebene aufnahm, stellt etwa die Hälfte der Exponate, die meist Originalabzüge der Entstehungszeit sind.
Die Fotos von Donzelli dokumentieren vor allem eine vorindustrielle, ländliche Lebens- und Arbeitsweise, fern von jeder Modernität. Wir sehen einen Strohwagen, gezogen von Ochsen, einen Mann mit einem Esel auf einer Landzunge, eine Figur im Ruderboot, einen Friseurladen in einem Holzverschlag, ärmliche Kinder, die vom Hochwasser des Po überfluteten Gebiete, den Fuß eines Obdachlosen als Zeugnis tödlicher Stille. Aus dem schnelllebigen Blickwinkel unserer Zeit gesehen, erscheint die Ruhe, die von diesen Fotos ausgeht, als etwas Schönes und Unerreichbares, obwohl es nicht mehr als vierzig Jahre her ist, dass sie fotografisch fixiert wurde. Mithilfe dieses Festhaltens, des Grundprinzips der Fotografie, wurde sogar die Langsamkeit zum Stillstand gebracht. Zusätzlich werden im Bildfeld der endlosen weiten Landschaften die Bewegungen der Menschen völlig absorbiert und ein graues unermessliches Licht ohne Schatten breitet sich aus.
Das Bild einer Haus-zu-Haus-Verkäuferin auf dem Fahrrad als Zeichen einer vergangenen langsamen Welt wirkt als das Gegenbild des schnellen ‚Shopping‘ in einem Supermarkt. Viele Szenen erscheinen uns heute idyllisch, als Ausdruck eines nostalgischen Stillstandes wie bei Ruhepausen. Ein Mann im Unterhemd, der auf dem Bett Klarinette spielt, Menschen, die auf alten, vergammelten Küchenstühlen sitzend Zeitung lesen, schlafende Fischer. Zu dieser Zeit schrieben die Massenmedien noch nicht den Lebensrhythmus vor, noch steuerten und beschleunigten sie die Art und Weise der Betrachtung. Diese Fotos zeigen eine italienische Landschaft der Vergangenheit, die es so nicht mehr gibt, auch weil sich unser Blick auf die Dinge geändert hat. Auch für viele Italiener, die in den Sechzigerjahren als Arbeitsemigranten nach Deutschland gekommen sind, ist diese Ferne nur noch aus ihrer eigenen Erinnerung bekannt.
Beim ästhetischen Genießen dieser fast paradiesisch anmutenden Reinheit darf aber nicht übersehen werden, dass sich hinter diesem schönen Schein der harte Kampf ums Dasein verbirgt. Die Arbeit von Donzelli ist auch zu verstehen als Chronik der kargen Fünfzigerjahre. Seine Fotos sind Dokumente der harten erschöpfenden Arbeit, der Armut und des Elends, wie die Fotos von Dorothea Lange, die während der Krise der Dreißigerjahre im Auftrag der Farm Security Administration die schwierige Lage der Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten fotografierte. Mit dieser fotografischen Richtung war Donzelli vertraut.
Die Position Donzellis innerhalb der Fotografie wurde von ihm selbst klar in verschiedenen Aufsätzen definiert, und er hat sie konsequent in seine Arbeit umgesetzt. Für ihn ist Fotografie immer mehr gewesen als nur die mithilfe grafischer Techniken konstruierte ästhetische Dimension des autonomen Kunstwerkes. Er betonte die Bedeutung des Themas und verteidigte die Reportage und die Dokumentarfotografie. Eine Fotografie kann ein Zeitdokument sein, doch hat sie darüber hinaus eine künstlerische Bedeutung, die aus der Sensibilität des Fotografen und seinem besonderen persönlichen Blickwinkel auf die Dinge erwächst.
Donzelli sieht das graue und oft hässliche Leben mit mildem und poetischem Blick. Die Mischung aus der Misere der Welt und der Humanität des Künstlers findet sich in der Synthese einer melancholischen Schönheit. Es ist diese Emotion, die von seinen Fotos übertragen wird.
Katalog
Pietro Donzelli. Das Licht der Einsamkeit/The Light of Solitude
Texte von Jean-Christophe Ammann und Ennery Taramelli (dt./engl.)
20 x 25 cm, 195 S., 112 s/w Abb.
Wolfsburg 1997
ISBN 3–9804827‑5–8
vergriffen