Kunst & Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute

12. 10. 2013 — 2. 3. 2014

Ausstellungsansichten

Infos

Kein Stoff, kein Material, keine Technik vermag unser sinnli­ches wie auch mentales Dasein so univer­sell zu berühren, wie das Textile und das gerade in einer Zeit, die durch die zuneh­mende Virtua­li­sie­rung immer unsinn­li­cher zu werden droht. Das Textile mit seinem über Jahrtau­sende weltweit entwi­ckelten Reichtum an Webarten und Texturen ist das ideale Medium, diesem Bedürfnis nach Sinnlich­keit nachzu­kommen. Mit einer histo­risch weit gespannten Ausstel­lung widmet sich das Kunst­mu­seum Wolfsburg erneut einem Lebens-Thema aus Sicht der Kunst: multi­me­dial, inter­dis­zi­plinär und die verschie­densten Kulturen umfassend. Nach „Interieur/ Exterieur” 2008 und „Die Kunst der Entschleu­ni­gung” 2011 ist dies eine weitere Etappe auf der Suche nach der Moderne im 21. Jahrhun­dert, die das Museum im Jahre 2006 begann.

Rund 200 Exponate von über 80 Künstlern und rund 60 weiteren anonymen, nicht überlie­ferten Künstlern umfasst diese groß angelegte Ausstel­lung, darunter hochka­rä­tige Gemälde von Gustav Klimt, Vincent van Gogh, Edgar Degas, Henri Matisse, Paul Klee und Jackson Pollock. Gezeigt werden auf rund 2700 Quadrat­me­tern Ausstel­lungs­fläche aber auch Artefakte, die keine nament­li­chen Schöpfer kennen, wie etwa ein gewobener Stoff aus dem alten Peru aus der Sammlung von Anni Albers.

Bei der Erkundung der Bedeutung des Textilen geht es auch um eine Art „Neulesung” der Geschichte der modernen Kunst vom Jugend­stil bis heute. Die Trennung von Kunst­hand­werk und bildender Kunst hatte in der Moderne zur Folge, dass alles „Kunst­hand­werk­liche” über Jahrzehnte syste­ma­tisch aus dem kunst­his­to­ri­schen Kanon verdrängt wurde. Dabei bezog die Moderne aus der Verbin­dung von Kunst und Kunst­hand­werk entschei­dende Impulse.

Für die Besucher von „Kunst & Textil” mag es überra­schend sein, dass sie in der Ausstel­lung nicht nur auf Kunst­werke treffen, die aus dem Material Stoff gearbeitet sind – wie etwa die typischen Strick­bilder von Rosemarie Trockel -, sondern auch auf Gemälde, die Stoffe abbilden, wie etwa die hängende Wäsche in Edgar Degas’ Bild „Die Büglerin” oder den üppigen Ball-Entrée, der Marie Henneberg in ihrem Bildnis von Gustav Klimt (1901) in eine textile Wolke hüllt. Video­ar­beiten beschäf­tigen sich mit der Idee des Textilen (Kimsooja) oder tauchen den Betrachter in einen Kosmos sich ständig wandelnder Netze (Peter Kogler). Darüber hinaus sieht man Objekte, die man sonst nur im Völker­kun­de­mu­seum antrifft, wie etwa feine Kubastoffe aus Afrika.

Ihr umfas­sender Ansatz macht „Kunst & Textil” zu einer Grund­lagen-Ausstel­lung. Ihren Ursprung und ihre komple­men­täre Ergänzung findet sie dabei in ihrem Pendent, der Ausstel­lung „Ornament und Abstrak­tion” (Fondation Beyeler) aus dem Jahr 2001, die die Bedeutung des Ornaments für die Entwick­lung der abstrakten Kunst unter­suchte. Geistiger Schirm­herr dieser thesen­haften Schau war der Wiener Kunst­his­to­riker Alois Riegl, der 1893 eine univer­sale Geschichte der Form schrieb, die von den frühesten Mustern, die der Mensch schuf, über das ägypti­sche Lotus­motiv und die griechi­sche Palmette bis zum Arabesken-Ornament führte und die man, so dann die These der Ausstel­lung, in der abstrakten Kunst weiter­ver­folgen konnte. Riegl antwor­tete damit Gottfried Semper, der 1863 die Technik und die Ausein­an­der­set­zung mit dem Material als Ursprung der Formen und Symbole sah. „Form follows material”: Das ist die Formel, die man bei dem Projekt “Kunst & Textil” ansetzen kann.

Den Auftakt der Ausstel­lung „Kunst & Textil” bildet die bewegte Zeit des Jugend­stils, als Künstler und Gestalter wie William Morris und Henry van de Velde sich in Paris, Brüssel, London und Wien anschickten, die Hierar­chie zwischen Kunst und Kunst­hand­werk zugunsten eines umfas­senden Lebens­ent­wurfes aufzu­lösen. Das textile Gestalten war auch das Binde­glied zur Malerei, die nach Édouard Vuillard, Henri Matisse und Gustav Klimt gerade im Begriff war, abstrakt zu werden. Der Besucher folgt dem roten Faden weiter zum Bauhaus in Weimar und Dessau, wo das textile Gestalten einen ersten Höhepunkt fand und wo die Grund­lagen für die Entfal­tung der sogenannten Fiber Art gelegt wurden. Doch weniger die Verkün­dung einer eigenen Kunst­rich­tung war fruchtbar, sondern vielmehr die immer selbst­ver­ständ­li­chere Verwen­dung des Textilen als Medium, Technik, Material und Idee innerhalb avant­gar­dis­ti­scher Kunst­be­we­gungen: wie in der Material- und Antiform-Kunst (Robert Morris), der Soft und Pop-Art (Sigmar Polke), der Fluxus- Kunst (Joseph Beuys) sowie auch in der Minimal Art (Agnes Martin). Der „Textil-Kunst” selbst haftete noch lange der Ruch des bloß Kunst­ge­werb­li­chen an und wurde als „Frauen­kram” und weibliche Hausar­beit abgetan bis Rosemarie Trockel Anfang der 1980er-Jahre ihre ersten Strick­bilder schuf und das Klischee des Textilen als geschlechts­spe­zi­fi­sche Ausdrucks­form umwertete. Das Kapitel „Spider­women” ist daher wichtigen Protago­nis­tinnen der feminis­ti­schen Kunst gewidmet, neben Trockel auch Louise Bourgeois, Mona Hatoum und Ghada Amer. Seither haben Künstler das Bedeu­tungs­spek­trum des Textilen enorm ausge­dehnt und das aktuelle Kunst­schaffen ist geradezu durch­setzt von Arbeiten aus Fäden und Stoffen, genähten Skulp­turen und gehäkelten Installationen.

Der „Kosmos Textil” reicht aber weit über die Kunst hinaus und betrifft unsere Aneignung von Welt funda­mental. „Mensch­sein heißt Leben mit Stoff”, sagt die Textil­for­scherin Beverly Gordon. Textilien begleiten uns das ganze Leben sprich­wört­lich von den Windeln bis zum Leichen­tuch. Das Spinnen und Weben ist, wie Gottfried Semper schon 1860 feststellte, eine Urtechnik, aus der alle anderen Künste hervor­gingen. „Wo ‚Bindung’ und ‚Verknüp­fung’ nicht kultur­tech­nisch bewältigt sind”, erläutert Hartmut Böhme, „kann es auch keine Kultur geben”. Der Jacquard-Webstuhl, dieses Urmodell der Indus­tria­li­sie­rung, führte das Lochkarten-Prinzip ein und wurde dadurch zu einem Prototyp der digitalen Bildkultur. Diese hochak­tu­elle Analogie von maschi­nellem Weben und digitalem Prozes­sieren verleitet dazu, das World Wide Web als eine Art Webstuhl des Internet-Zeital­ters zu verstehen.

Die Ausstel­lung im Kunst­mu­seum Wolfsburg verfolgt auch die Frage nach dem Anteil textiler Techniken an der Geburt der Abstrak­tion. So findet die ortho­go­nale Gewebe­struktur von Kette und Schuss ihre Entspre­chung zum recht­wink­ligen Gitter­muster, das Ende der 1920er-Jahre die moderne Malerei eroberte (Piet Mondrian). Ein beson­deres Augenmerk legt „Kunst & Textil” auch auf das zweite Haupt­er­eignis der modernen Kunst, nämlich den Ausstieg der Malerei aus dem Bild in den Raum. Die Ausstel­lung verfolgt den „Faden aus dem Bild in den Raum” anhand von histo­ri­schen wie auch z.T. für den Anlass geschaf­fenen Instal­la­tionen (Leonora Tawney, Fred Sandback, Chiharu Shiota, Peter Kogler).

Das größte Kapitel mit Exponaten aus Afrika, Südame­rika, Asien und dem Orient ist dem inter­kul­tu­rellen Dialog gewidmet. Die Univer­sa­lität des Textilen macht es zu einer Art Weltsprache. Überall wird über „Global Art” disku­tiert, die sich angeblich nicht mehr am westli­chen Kunst­be­griff orien­tiere. Doch wie lässt sie sich im nach wie vor westlich orien­tierten Kunst­be­trieb präsen­tieren? Auch ethno­lo­gi­sche Museen und Museen nicht­eu­ro­päi­scher Kunst müssen sich dieser Frage stellen, wie etwa das künftige Humboldt­forum in Berlin. Das Kunst­mu­seum Wolfsburg schlägt in dieser Ausstel­lung ein eigenes Präsen­ta­tions-Modell vor, das auf der Zusam­men­füh­rung von Objekten aus verschie­denen kunst- und kultur­his­to­ri­schen Kontexten basiert.

Das Wolfs­burger Wandsystem ermög­licht eine vielsei­tige Insze­nie­rung der Ausstel­lung und wird z.T. selbst zum Objekt, wie etwa bei der Nachemp­fin­dung des einzig­ar­tigen Café Samt & Seide, das Lilly Reich und Ludwig Mies van der Rohe 1927 in Berlin errichteten.

Der Katalog zur Ausstel­lung ist zum Preis von EUR 42,- auch online zu bestellen.