Facing India
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Wie nutzen indische Künstlerinnen heute ihre Stimme? Wie gehen sie mit ihrer sozialen Verantwortung um? Welche Sprache finden sie für das Unausgesprochene? Erstmals in Deutschland zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg eine Ausstellung mit sechs Künstlerinnen aus Indien. Vibha Galhotra (*1978), Bharti Kher (*1969), Prajakta Potnis (*1980), Reena Saini Kallat (*1973), Mithu Sen (*1971) und Tejal Shah (*1979) stellen sich der Realität Indiens und verhandeln diese bildpolitisch in ihren Werken.
Obwohl die Frau vor dem Gesetz gleichgestellt ist, ist die indische Gesellschaft zutiefst vom Patriarchat geprägt. Zwar befindet sich Indien im gesellschaftlichen Umbruch, doch zerrissen zwischen den Polen Tradition und Fortschritt, sind Frauen in diesem Spannungsfeld immer noch stark benachteiligt. So steht die rasante Entwicklung des urbanen Indien im Gegensatz zu den Lebensbedingungen im ländlichen Raum. Unzählige Ethnien, Kasten, Sprachen, Kulturen, Religionen und Philosophien formen eine vermeintlich pluralistische Gesellschaft, in der sich Identität durch die Abgrenzung vom jeweils anderen definiert. In der Gesellschaftsstruktur Indiens bildet sich so unsere globale Gemeinschaft ab, die grundsätzlich mit denselben Problemen kämpft.
„Facing India“ geht der Frage nach, wie sich die eigene Landesgeschichte, Gegenwart und Zukunft aus dem weiblichen Blickwinkel darstellen. Vibha Galhotra, Bharti Kher, Prajakta Potnis, Reena Saini Kallat, Mithu Sen und Tejal Shah lenken in ihren multimedialen Werken die Aufmerksamkeit auf historische und aktuelle Konflikte. Poetisch, metaphorisch und leise, aber auch radikal, direkt und laut hinterfragen sie Grenzen in jeglicher Hinsicht – seien es politische, territoriale, ökologische, religiöse, soziale, persönliche oder Geschlechtergrenzen. Die Geschichte dieser Grenzen, ihre Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit, ihre Legitimität und nicht selten ihre Auflösung sind das Thema der in „Facing India“ gezeigten Werke. Die Ausstellung konzentriert sich auf sechs Positionen, um diese umso eingehender vorzustellen. In einer zunehmend globalisierten Welt sozialisiert und ausgebildet, beschränken sich die Künstlerinnen in ihren „Grenzkontrollen“ nicht mehr allein auf Indien, sondern greifen auf andere Länder und Kontinente aus. Staat, Gesellschaft und Individuum, Identitäts- sowie Umweltfragen werden kritisch unter die Lupe genommen. Doch wie breit ihr Themenspektrum auch sein mag, explizite und implizite Verweise auf die Präsenz des Weiblichen und die Stellung der Frau sowie Solidarität und Empathie ziehen sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung. „Facing India“ ist im fortwährenden Dialog mit den Künstlerinnen entstanden und spiegelt eine Art kollektives Plädoyer für Kommunikation und die Einheit in der Vielfalt jenseits von Schubladen- und Kastendenken. Die Ausstellungsarchitektur nimmt diesen Gedanken auf.
Die Künstlerinnen bespielen sechs separate Ausstellungsbereiche, die in klarem Sichtbezug zueinander arrangiert sind. Im Zentrum der Ausstellung befindet sich ein offenes Kommunikationsforum, das dem Besucher den Blick in alle Richtungen ermöglicht – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.
Der Katalog
Der Katalog, herausgegeben von Ralf Beil und Uta Ruhkamp in deutscher und englischer Ausgabe, mit einem Vorwort von Ralf Beil und einer Einführung von Uta Ruhkamp, Essays von Urvashi Butalia, Leiterin des feministischen Verlages Zubaan, und Roobina Karode, Direktorin des Kiran Nadar Museum of Art in Neu-Delhi und Noida, sowie ausführlichen Interviews mit allen Künstlerinnen von Uta Ruhkamp. 240 Seiten mit 150 Abbildungen, 24 x 31 cm, Hardcover, 38 € im Museumshop.
Künstlerinnen
Die Arbeiten von Vibha Galhotra (*1978) kreisen um die Frage, was es bedeutet, als bildende Künstlerin im Anthropozän zu arbeiten. Ist es in der künstlerischen Praxis möglich, soziale, ökologische und politische Themen wie den Klimawandel zu verhandeln, ohne dass die Ästhetik der Werke die gesamte Aufmerksamkeit auf die Künstlerin lenkt und verheerende Probleme normalisiert? Untersuchungsgegenstand sind die fünf Elemente Wasser, Erde, Luft, Feuer und Äther. Mit einer scheinbar romantisierenden Bildsprache thematisiert Galhotra das kontamierte Wasser des heiligen Yamuna-Flusses oder die alle zulässigen Werte übersteigende Feinstaubkonzentration in Delhi. Die Atemmaske wird zum alltäglichen Kleidungsstück, besorgniserregende Klimagraphen verwandeln sich in eine an die Arte povera erinnernde Welle aus Glöckchen, und das Säubern von Pflanzen wird zur Zen-Meditation. Vibha Galhotra reagiert mit ihren Arbeiten auf den menschlichen Irrsinn im „Zeitalter der Vernunft“. Ihre Ästhetisierung der ökologischen Katastrophe ist Vermittlungsstrategie und ironische Brechung zugleich.
Bharti Kher (*1969) ist als einzige Künstlerin der Ausstellung in der Diaspora in London geboren. Seit 1992 lebt sie in Indien und blickt aus einer doppelten Perspektive auf die patriarchalische Gesellschaft ihres Landes. Ihre Arbeiten resultieren aus der Beobachtung ihrer alltäglichen Umwelt, deren Gegenstände, Objekte und Merkmale sie als „Objet trouvé“ oder „Readymade“ in neue Sinnzusammenhänge überführt. Entscheidende Identitätszeichen indischer Frauen, wie das Bindi, der Sari oder die Armreifen, werden zum Material und suggerieren trotz der Abwesenheit des Körpers eine Anwesenheit des Weiblichen. Nicht Reproduktion, sondern Suggestion ist das Anliegen Bharti Khers. So setzt sie sich in ihrem Werk mit klassischen Material- und Kompositionsfragen auseinander, scheut sich als bekennende Feministin aber auch nicht vor klaren gesellschaftskritischen Aussagen. Ihr schwarzer „Deaf Room“ steht für die verstummten Stimmen unzähliger Frauen, während es sich bei ihrer Arbeit „Six Women“ um die geschundenen Körper von Sex-Arbeiterinnen aus Kalkutta handelt. Bharti Kher sprengt die Grenzen des traditionellen indischen Frauenbildes und lässt Frauen multiple Identitäten annehmen, vorzugsweise als starkes Geschlecht.
Prajakta Potnis (*1980) ist die jüngste Künstlerin der Ausstellung, die ihre gesellschaftlichen Beobachtungen indirekt und metaphorisch ausdrückt. Sie begreift materielle und physische Grenzen wie Mauern, Wände und Haut als permeable Membran. Welche Spuren tragen sie? Was dringt durch sie hindurch und beeinflusst unsere Psyche? Prajakta Potnis macht sichtbar, was unsichtbar in unserer Gesellschaft wuchert, wie ein Virus, der die Alltagswelt befällt. Als Ausgangspunkt für ihre Befragung wählt sie die nicht nur in Indien am deutlichsten weiblich konnotierten Orte, das Haus und vor allem die Küche, die sie als Konfliktzone zwischen Tradition und Technologisierung fasziniert. Der Trockner, der Standmixer, der Kühlschrank oder das Gefrierfach werden zum Verhandlungsort für politische und ökologische Themen, überholte Ideologien, Gesellschaftskritik und Identitätsfragen. Das Persönliche wird zum Politischen, wenn ein atompilzartiger Blumenkohl auf Genmanipulation schließen lässt, die Ventile von Schnellkochtöpfen wie kleine Granaten auf das Gefühl konstanter Bedrohung durch den Terrorismus oder Überwachungsstaat verweisen oder Miniaturrolltreppen in einem Kühlschrank an ein globales „Nowhere“ der immer gleichen Shoppingmalls und Flughäfen erinnern, die jegliche lokale Standortidentität negieren.
Das Trennende und das Verbindende ziehen sich wie ein roter Faden durch das Werk von Reena Saini Kallat (*1973). Dabei geht es ihr nicht nur um umkämpfte Territorialgrenzen, sondern auch um soziale und psychologische Barrieren. Trotz ihrer Stacheldrahtästhetik steht ihre Arbeit „Woven Chronicle“, eine aus Elektrokabeln geknüpfte Weltkarte, die Migrationsrouten weltweit nachvollzieht, nicht nur für internationale Grenzkonflikte, sondern fungiert auch als Netzwerkmetapher – ein Manifest der möglichen Kommunikation. Ganz in diesem Sinne lebt die Natur in Reena Saini Kallats Arbeiten vor, wozu der Mensch in Geschichte und Gegenwart nicht in der Lage ist: ein friedliches und gleichberechtigtes Miteinander, einen gelebten Pluralismus der Kulturen. So kreiert sie in ihren „Hyphenated Lives“ eine Welt aus tierischen und pflanzlichen Hybriden, die sich aus der typischen Flora und Fauna zweier Konfliktländer zusammensetzt, seien es Indien und Pakistan oder Texas und Mexiko. Reena Saini Kallat benennt die Namenlosen und sieht im Rückblick die Chance auf den Blick nach vorn. So zögert sie nicht, dem weiblichen Körper in „Crease/Crevice/Contour“ die erlittene Gewalt während der indisch-pakistanischen Teilung 1947 als sichtbare Wunde hinzuschreiben und spricht sich deutlich für eine Kultur des Erinnerns statt des Schweigens aus.
Mithu Sen (*1971) setzt ihre eigenen Regeln und entzieht sich jeder Kategorisierung. Für ihre allumfassende Revolte hat sie das Präfix „un“ gewählt, das das Geschehene oder eine Aussage gleichzeitig wieder aufhebt: (un)becoming, un(home), un(construct), un(mything) bis hin zu un(mithu). In ihrem Drang zur Entgrenzung zerlegt Mithu Sen jedoch nicht nur die Sprache in ihre Bestandteile, um sie dann immer wieder neu zusammenzusetzen. Der Ort ihrer Reflexion ist der Körper. In ihren Bildern, Zeichnungen, Skulpturen und Installationen überlagern sich weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale, Blumen, Früchte, menschliche und tierische Elemente zu bizarr schockierenden Hybriden. Universalien menschlicher und tierischer Existenz, wie Haare, Knochen oder Zähne, stellen nicht nur etablierte Hierarchien und Grenzen zwischen Geschlechtern infrage, sondern auch zwischen Ethnien, Kasten und Spezies. Mit der Radikalität ihrer Bildsprache bricht sie lautstark Tabus. Ihr Auflösungswille reicht bis hin zur Institutionskritik. So schafft sie mit ihrem „Museum of Unbelongings“ (2018) die Idee eines demokratischen Museums der marginalisierten Dinge, das ohne Labels und Hierarchien auskommt. Alle Gegenstände haben den gleichen Wert – eine Metapher für eine egalitäre, grenzenlose Welt.
Tejal Shah (*1979) vertritt eine der radikalsten Positionen in der indischen Kunst der Gegenwart. Ihr Werk dreht sich um die Frage nach der puren Essenz von Existenz. Antworten sucht sie in extrem unterschiedlichen Feldern wie dem Buddhismus, Studien zur Kommunikation zwischen Mensch und Tier, queerfeministischen oder Post-Porn-Theorien. So lässt sie in ihrer komplexen documenta-13-Arbeit „Between the Waves“, einer Fünf-Kanal-Installation, scheinbar aus Zeit und Raum gefallene Wesen eine urzeitliche und zugleich unverkennbar zeitgenössische Welt erkunden und dabei ihren natürlichen Instinkten folgen, denen sie sich schamfrei vor der Kamera hingeben. Unverkennbar ist dabei ihre Forderung nach Anerkennung eines flexiblen Genderverständnisses, jenseits von binären, biologischen und sozial konstruierten Geschlechterrollen. Dieses spiegelt sich in Arbeiten wie „Women like us“ und „I AM“, einer Porträtgalerie von Inderinnen, deren Selbstverständnis sich nicht mit den konservativen Vorstellungen von weiblicher Identität deckt oder „Untitled (On violence)“, in der sie die Gewalt durch den Staat gegen das sogenannte „dritte Geschlecht“ (Hidjra) offen thematisiert. Provokant und direkt setzt sich Tejal Shah in ihren Werken für soziale Gerechtigkeit und eine tabufreie Gesellschaft ein und überschreitet dabei die Grenzen zum Aktivismus.
Videos
Pressestimmen
… nicht zuletzt die vergangene Documenta hat gezeigt, wie im Kunstbereich beste Absichten zu schlechten Ausstellungen führen, wenn man die Logik der Kreativität umkehrt und die Kunst dienstbar für politische Kampagnen zu machen versucht. Überzeugend wird die spezielle Betrachtung, die Künstler auf drückende Themen zu bieten haben, wenn sie sich aus deren originärem künstlerischen Selbstverständnis entwickelt. Und genau das hat “Facing India” der Documenta und vielen anderen aktivistischen Veranstaltungen des Kuratorenmarktes voraus. Die hier formulierten Anliegen sind unmittelbar und trotzdem Ausdruck einer individuellen Symbolik.
Till Briegleb, Süddeutsche Zeitung, 26.6.2018
Das Kunst-Ressort blickt einem ganzen Subkontinent ins Antlitz: “Facing India” heißt die eindrucksvolle Ausstellung, mit der das Kunstmuseum Wolfsburg sechs zeitgenössische indische Künstlerinnen vorstellt. Ihre Anliegen sind drängend aktuell, ihre Formensprachen überbordend sinnlich – ein Schlag ins Gesicht des westlichen Kulturbetriebs, der sich oft mit steril selbstreferentiellen Spielchen begnügt.
Elke Linda Buchholz, Kunst+Film, 13.6.2018
Es ist eine faszinierende Ausstellung über Journalismus, Wirklichkeit und Wahrheit, über die Arbeit von Redaktionen mit und ohne digitale Werkzeuge, über Abhängigkeiten und Hierarchien – und über die Historie, die Journalisten prägen, so oder so. (…) Die Ausstellung in Wolfsburg zeigt eine Fülle von Kontaktbögen, auf denen all die Bilder zu sehen sind, die der Fotograf mitgebracht hatte, die aber nie ins Blatt kamen: So wird die Ausstellung auch zu einer Fundgrube für Historiker des Journalismus, um herauszufinden, wie Redaktionen Wirklichkeit konstruieren, verändern und prägen. Dabei sind Fragen nicht leicht zu beantworten wie: Wo beginnt die bewusste Manipulation? (…) Die Ausstellung, die ein Glücksfall für den Journalismus ist, zeigt beispielhaft, wie Redaktionen Wirklichkeit prägen – auch durch Auswahl oder Weglassen von Themen.
Paul-Josef Raue, Kress.de, 7.5.2018
„Facing India – Was für ein radikaler Blick auf den Subkontinent und auf unsere Welt!“
Silke Bartlick, Deutsche Welle TV, 5.5.2018
„Keineswegs also lassen sich die Künstlerinnen auf eine Herkunftsgebundenheit oder Genderfragen reduzieren. Dennoch ist die ausschließlich weibliche Besetzung gerade angesichts der Tatsache, dass Frauen längst nicht nur in Indien nach wie vor häufig marginalisiert sind, ein starkes Signal. Auch wenn Bharti Khers ‚Six Woman‘ in der Schau den Betrachter mahnend anschweigen, sind sie ein Zeichen dafür, dass viele ihre Stimmen längst erhoben haben. Es ist an der Zeit, ihnen zuzuhören.“
Raphael Dillhof, art Magazin, 1.5.2018
„Sechs Stimmen sprechen scheinbar über Indien, meinen dabei aber die ganze Welt. Hier lohnt es sich, Zeit zu nehmen – und den Geist weit zu öffnen.“
Eva Hieber, Wolfsburger Nachrichten, 27.4.2018
So handelt die Kunst in dieser Schau von vielem, was das Land prägt, von lauter parallelen, sich auch überkreuzenden Entwicklungen. […] Vor allem haben sie starke Werke geschaffen, sie beweisen eine ungeheure visuelle Stärke, sie arbeiten mit Lehm, mit Armreifen, Stahl und Film, und sie zeigen, wie alles mit allem zusammenhängt, in Indien und überall […]
Ulrike Knöfel, DER SPIEGEL, 21.4.2018