Blow Up!
Vom Wachsen der Dinge
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Wie ein Rhizom durchziehen die Ausstellung Blow Up! unterschiedlichste Themen unserer Zeit, die im weitesten Sinne vom Wachsen der Dinge handeln. Mit einer eindrucksvollen Erweiterung von mehr als 80 Schenkungen aus jüngster Zeit steht auch das Anwachsen der Museumssammlung selbst im Zentrum der Ausstellung. Mit ihrer breiten medialen Vielfalt eröffnen die Werke eine impulsgebende Auseinandersetzung mit psychologisch und gesellschaftlich aufgeladenen Räumen, Landschaften und Diskursen. Alle Neuzugänge sind großzügigen Sammler*innen und Künstler*innen zu verdanken.
Mit seiner unbestimmten Form und rohen Materialität scheint sich Blob von Phyllida Barlow als blasenartige Keimzelle seinen Weg aus der Wand in den Ausstellungsraum zu bahnen. Von ähnlich archaischer Kraft und Anmutung sind auch die kraftvoll geformten Laute der Performerin aus Gary Hills Videoarbeit Remembering Paralinguay, die auf eine vorsprachliche Form der Kommunikation zielen.
Deutlich offenbart Otto Piene mit seinem eindrucksvollen pneumatischen Ensemble, den Blumen des Bösen (Fleurs du Mal, 1969), die wechselseitige Beziehung von Wachstum und Vergehen. Das Spiel mit den Naturkräften und ‑elementen setzt sich in seinen Wandreliefs fort, die in einen Dialog mit den „aufgepeitschten“ Keramikbildern von K. O. Götz treten. Das technische Spiel mit der Größe – als blow-up werden Vergrößerungen in der Fotografie oder das Heranzoomen in Filmen bezeichnet – beherrscht auch Jochen Lempert, der seinen Tierporträts Individualität erleiht.
Unbestimmbare räumliche Situationen wie auch unmittelbare physische Interaktionen mit dem Raum entwickelt Adam Putnam in seinen Fotografien. Mit größtmöglicher emotionaler Distanz erforscht Daniel Boudinet mittels Kamera in der Nacht das Interieur seiner Pariser Wohnung. Das Spiel mit (maximaler) Distanz und (intimer) Nähe setzt Alain Fleischer in seinen Projektionen auf Häuserwände von Metropolen fort.
Eine körperliche Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit der dinglichen Welt thematisiert das große dreiteilige Werk Zweisamkeitsimaginierung von Jürgen Klauke. Mit Fetischvorlieben beschäftigt sich der Künstler Stefan Thiel, indem er die Porträtierten mit Nylonstrümpfen maskiert zeigt. Das Verborgene und Fragmentarische ist auch im Werk der feministischen Künstlerin Wynne Greenwood präsent, die in ihrer Videoinstallation ein Zwiegespräch mit ihrem „ängstlichen Bauch“ führt und bürgerliche Konventionen karikiert. Als Erweiterung ihres eigenen Körpers erlebt die argentinische Malerin Mariela Scafati ihre Rauminstallation aus beweglichen, monochromen Leinwänden, die sie über Seilverbindungen orchestriert.
Neben der Frage nach der Selbstverortung des Individuums werden auch gewachsene gesellschaftliche Strukturen kritisch hinterfragt. So spielt das Verdrängen in der Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Geschichte und Gegenwart eine zentrale Rolle. Rodney McMillian übt hier mit seiner raumgreifenden Installation Kritik an Rassismus und patriarchalen Machtstrukturen. Der Urtypus der US-amerikanischen Architektur, die Blockhütte des weißen Mannes, steht hingegen für Olga Koumoundouros im Fokus ihrer Skulptur Sagamore: The Good Life. In einer weiteren Werkserie kritisiert sie die tief in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelte Waffenbegeisterung, während Fred Lonidier 1972 die Festnahmen friedlich gegen den Vietnamkrieg Protestierender als Groteske dokumentierte. Bissig kommentiert Johannes Wohnseifer mit dem Titel seines Flaggenbildes das Erbe des westlichen Kolonialismus: not a flag not even a map.
Das Konzept territorialer Grenzen hinterfragt Nathan Carter mit seiner transnationalen Kartografie in bewusst naiver Ästhetik. Das Scheitern von Grenzüberwindungen infolge von Flucht und Migration legt Tejal Shah mit der Darstellung lebloser Körper von „Boatpeople“ offen. Zum Kampf für die Werte der Demokratie ruft auch Jordan Wolfsons Filmarbeit I’m sorry but i don’t want to be an Emperor auf, indem er in Gebärdensprache Charlie Chaplins Rede aus der Parodie Der große Diktator wiedergibt. Unterdessen scheint sich der Blob von Phyllida Barlow zum Ende der Ausstellung zu einer überdimensionalen Überwachungskamera aufgebläht zu haben, welche die Omnipräsenz des „Big Brother“ thematisiert.
Künstler*innen in Blow Up! Vom Wachsen der Dinge
Phyllida Barlow, Daniel Boudinet, Nathan Carter, Alain Fleischer, K. O. Götz, Wynne Greenwood, Gary Hill, Jürgen Klauke, Olga Koumoundouros, Jochen Lempert, Fred Lonidier, René Lück, Michel Majerus, Rodney McMillian, Otto Piene, Adam Putnam, Mariela Scafati, Tejal Shah, Stefan Thiel, Goran Tomcic, Johannes Wohnseifer, Jordan Wolfson
Kurator*in:
Holger Broeker
Elena Engelbrechter
Kuratorische Assistenz:
Carla Wiggering
Michel Majerus (1967–2002) hat in seiner kurzen Lebenszeit – er starb im Alter von nur 35 Jahren bei einem Flugzeugunglück – eines der prägnantesten malerischen und installativen Werke der 1990er-Jahre geschaffen. Die deutschlandweite Ausstellungsreihe Michel Majerus 2022 widmet sich zwanzig Jahre nach seinem Tod verschiedenen Werkphasen und Aspekten seines außergewöhnlichen Schaffens, das bis heute Künstler*innen jüngerer Generationen beeinflusst.
Das Kunstmuseum Wolfsburg präsentiert im Rahmen von Blow Up! das zehn Quadratmeter große Gemälde What looks good today may not look good tomorrow (1999) aus seiner Sammlung und stellt der Ausstellung Michel Majerus. Data Streaming im Hamburger Kunstverein (12. 11. 2022 – 12. 2. 2023) die raumgreifende Installation The space is where you’ll find it (2000) zur Verfügung.