Die Kunst der Entschleunigung. Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei
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Die Geschichte der Moderne erscheint zunächst vor allem als eine Geschichte der Beschleunigung. Die Entwicklung immer schnellerer Transportmittel, kürzerer und weiter reichender Kommunikationswege und optimierter Produktionsverfahren haben das Lebenstempo seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich erhöht – bis hin zum „rasenden Stillstand“ (Paul Virilio). Eine sichtbare Spitze dieser Entwicklung war auch immer die Kunst, die als Avantgarde selbst das Rad mit ihren Erfindungen und Expansionen in Schwung gehalten hat – vom Impressionismus über den Futurismus, den abstrakten Expressionismus bis zur kinetischen Kunst der 1950er Jahre und zur Medienkunst. Wenig beachtet wurde bisher aber, dass mit der Faszination für die entfesselte Bewegung von Anfang an stets auch die Suche nach Entschleunigung verbunden war. Bereits um 1900 sprach man vom ’Zeitalter der Nervosität’. Heute, im Zeitalter der Globalisierung, des Turbokapitalismus und des Internets, welches unser Gefühl von Zeitknappheit, Zersplitterung und Ausgebranntsein beschleunigt, wächst nicht nur das Bedürfnis nach Entschleunigung (nach Entspannungstechniken, slow-food oder slow-communication), sondern auch die Einsicht, dass Fortschritt von der Bindung an die Beschleunigung entkoppelt werden sollte: Um weiter zu kommen, müssen wir entschleunigen!
Kein Bereich versinnlicht diese Dialektik von Bewegung und Ruhe besser als die moderne Kunst: Zur gleichen Zeit, als die italienischen Futuristen um 1910 in glühenden Manifesten und flammenden Gemälden die Geschwindigkeit verherrlichten, erfand deren Landsmann Giorgio De Chirico die stille Welt der Pittura metafisica. Erstmals geht das Kunstmuseum Wolfsburg dieser Dialektik der Moderne in einer umfassenden Ausstellung nach. Mit einer akzentuierten Werkauswahl werden die beiden Themenfelder ´kontrapunktisch´ erfahrbar gemacht. Die Idee der Bewegung oder Beschleunigung findet ihre vielgestaltige Umsetzung in Werken von Künstlern wie William Turner, Auguste Rodin, Marcel Duchamp oder Robert Delaunay, von Futuristen wie Giacomo Balla, Kinetikern wie Jean Tinguely, Zero-Künstlern wie Günther Uecker sowie bei zeitgenössischen Künstlern wie Panamarenko, Nam June Paik, Christian Marclay und Bruce Nauman. Das stille Gegengewicht bilden die Landschaften Caspar David Friedrichs, die fantastischen Welten von Odilon Redon und Max Ernst, die Malerei eines Giorgio Morandi und eines Mark Rothko, Mario Merz als Vertreter der Arte Povera bis hin zur filmischen Verlangsamung bei Bill Viola oder Douglas Gordon.
Hoch aktuell reflektieren zeitgenössische Künstler spezifische Phänomene: Die Digitalisierung und das Internet führten zu einem Quantensprung in der globalen Kommunikations-Kultur. Die (vorletzte) Finanzkrise wird vielfach als Folge der neuen Geschwindigkeit der Informationsübermittlung gedeutet. Julius Popp ästhetisiert die Beschleunigung der Kommunikation in der dot.com-Generation. Kris Martin thematisiert die Sinnsuche der orientierungslos gewordenen Jet-Setter. Ein besonderes Kapitel widmet sich dem Umgang mit Geld mit Arbeiten von Aernout Mik, Andreas Gursky oder Ai Weiwei. Das beschleunigte Wachstum von Bevölkerung und Städten ist ein weiteres Thema. Der Fotograf George Osodi hält die Widersprüche von verschiedensten Entwicklungsgeschwindigkeiten in der fast 10-Millionen-Einwohnerstadt Lagos fest. Dagegen projizieren Anselm Kiefers Riesen-Gemälde die Vision einer menschenleeren, mythischen Ewigkeit in die Zukunft. Jeppe Hein führt die Tradition der kinetischen Kunst (Tinguely) in Interaktivität mit dem Besucher fort. Jonathan Schipper dehnt die Zerstörung einer Mobilitätsikone quälend lange aus.
Anhand der Kunst verdichtet die Ausstellung ein Thema, das den Nerv der Gesellschaft trifft und fokussiert mit den polaren Begriffen Beschleunigung/Entschleunigung zahlreiche aktuelle Probleme wie Zeitkrise, Finanzkrise, Umweltkatastrophen, Kontrollverlust, Gegenwarts-schrumpfung (Lübbe), Tempovirus Internet, Stress- und Burnoutsyndrome. Dabei kann es aber nicht um oppositionelle Lösungsversuche gehen. Was fehlt ist, wie der Soziologe Hartmut Rosa sagt, „ein neues Konzept von Fortschritt und einem gelingenden Leben“ – Fortschritt, der nicht Langsamkeit gegen Geschwindigkeit ausspielt. Hierbei hilft zu erkennen, dass die Geschichte der Moderne immer auch eine Geschichte komplementärer Tendenzen von Be- und Entschleunigung war.
So verdichtet und öffnet das Kunstmuseum Wolfsburg das Thema zugleich, indem es sich selbst als Ort der Entschleunigung zur Verfügung stellt und Raum und Zeit anbietet für Reflexion – Reflexionszeit, die in unserer Gesellschaft zunehmend fehlt. Die Katalogpublikation und ein differenziertes Rahmenprogramm bilden kunstübergreifend die Plattform für die immer dringlicher werdende Diskussion um das gesellschaftliche und individuelle Bedürfnis nach Entschleunigung – aus philosophischer, psychologischer, soziologischer, technologischer und neurowissenschaftlicher Sicht.
Die Ausstellung wird von Volkswagen Financial Services unterstützt.