Die Kunst der Entschleunigung. Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei

31. 10. 2011 — 9. 4. 2012

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Die Geschichte der Moderne erscheint zunächst vor allem als eine Geschichte der Beschleu­ni­gung. Die Entwick­lung immer schnel­lerer Trans­port­mittel, kürzerer und weiter reichender Kommu­ni­ka­ti­ons­wege und optimierter Produk­ti­ons­ver­fahren haben das Lebenstempo seit dem 19. Jahrhun­dert konti­nu­ier­lich erhöht – bis hin zum „rasenden Still­stand“ (Paul Virilio). Eine sichtbare Spitze dieser Entwick­lung war auch immer die Kunst, die als Avant­garde selbst das Rad mit ihren Erfin­dungen und Expan­sionen in Schwung gehalten hat – vom Impres­sio­nismus über den Futurismus, den abstrakten Expres­sio­nismus bis zur kineti­schen Kunst der 1950er Jahre und zur Medien­kunst. Wenig beachtet wurde bisher aber, dass mit der Faszi­na­tion für die entfes­selte Bewegung von Anfang an stets auch die Suche nach Entschleu­ni­gung verbunden war. Bereits um 1900 sprach man vom ’Zeitalter der Nervo­sität’. Heute, im Zeitalter der Globa­li­sie­rung, des Turbo­ka­pi­ta­lismus und des Internets, welches unser Gefühl von Zeitknapp­heit, Zersplit­te­rung und Ausge­brannt­sein beschleu­nigt, wächst nicht nur das Bedürfnis nach Entschleu­ni­gung (nach Entspan­nungs­tech­niken, slow-food oder slow-commu­ni­ca­tion), sondern auch die Einsicht, dass Fortschritt von der Bindung an die Beschleu­ni­gung entkop­pelt werden sollte: Um weiter zu kommen, müssen wir entschleunigen!

Kein Bereich versinn­licht diese Dialektik von Bewegung und Ruhe besser als die moderne Kunst: Zur gleichen Zeit, als die italie­ni­schen Futuristen um 1910 in glühenden Manifesten und flammenden Gemälden die Geschwin­dig­keit verherr­lichten, erfand deren Landsmann Giorgio De Chirico die stille Welt der Pittura metafi­sica. Erstmals geht das Kunst­mu­seum Wolfsburg dieser Dialektik der Moderne in einer umfas­senden Ausstel­lung nach. Mit einer akzen­tu­ierten Werkaus­wahl werden die beiden Themen­felder ´kontra­punk­tisch´ erfahrbar gemacht. Die Idee der Bewegung oder Beschleu­ni­gung findet ihre vielge­stal­tige Umsetzung in Werken von Künstlern wie William Turner, Auguste Rodin, Marcel Duchamp oder Robert Delaunay, von Futuristen wie Giacomo Balla, Kineti­kern wie Jean Tinguely, Zero-Künstlern wie Günther Uecker sowie bei zeitge­nös­si­schen Künstlern wie Panama­renko, Nam June Paik, Christian Marclay und Bruce Nauman. Das stille Gegen­ge­wicht bilden die Landschaften Caspar David Fried­richs, die fantas­ti­schen Welten von Odilon Redon und Max Ernst, die Malerei eines Giorgio Morandi und eines Mark Rothko, Mario Merz als Vertreter der Arte Povera bis hin zur filmi­schen Verlang­sa­mung bei Bill Viola oder Douglas Gordon.

Hoch aktuell reflek­tieren zeitge­nös­si­sche Künstler spezi­fi­sche Phänomene: Die Digita­li­sie­rung und das Internet führten zu einem Quanten­sprung in der globalen Kommu­ni­ka­tions-Kultur. Die (vorletzte) Finanz­krise wird vielfach als Folge der neuen Geschwin­dig­keit der Infor­ma­ti­ons­über­mitt­lung gedeutet. Julius Popp ästhe­ti­siert die Beschleu­ni­gung der Kommu­ni­ka­tion in der dot.com-Generation. Kris Martin thema­ti­siert die Sinnsuche der orien­tie­rungslos gewor­denen Jet-Setter. Ein beson­deres Kapitel widmet sich dem Umgang mit Geld mit Arbeiten von Aernout Mik, Andreas Gursky oder Ai Weiwei. Das beschleu­nigte Wachstum von Bevöl­ke­rung und Städten ist ein weiteres Thema. Der Fotograf George Osodi hält die Wider­sprüche von verschie­densten Entwick­lungs­ge­schwin­dig­keiten in der fast 10-Millionen-Einwoh­ner­stadt Lagos fest. Dagegen proji­zieren Anselm Kiefers Riesen-Gemälde die Vision einer menschen­leeren, mythi­schen Ewigkeit in die Zukunft. Jeppe Hein führt die Tradition der kineti­schen Kunst (Tinguely) in Inter­ak­ti­vität mit dem Besucher fort. Jonathan Schipper dehnt die Zerstö­rung einer Mobili­täts­ikone quälend lange aus.

Anhand der Kunst verdichtet die Ausstel­lung ein Thema, das den Nerv der Gesell­schaft trifft und fokus­siert mit den polaren Begriffen Beschleunigung/Entschleunigung zahlreiche aktuelle Probleme wie Zeitkrise, Finanz­krise, Umwelt­ka­ta­stro­phen, Kontroll­ver­lust, Gegen­warts-schrump­fung (Lübbe), Tempo­virus Internet, Stress- und Burnout­syn­drome. Dabei kann es aber nicht um opposi­tio­nelle Lösungs­ver­suche gehen. Was fehlt ist, wie der Soziologe Hartmut Rosa sagt, „ein neues Konzept von Fortschritt und einem gelin­genden Leben“ – Fortschritt, der nicht Langsam­keit gegen Geschwin­dig­keit ausspielt. Hierbei hilft zu erkennen, dass die Geschichte der Moderne immer auch eine Geschichte komple­men­tärer Tendenzen von Be- und Entschleu­ni­gung war.

So verdichtet und öffnet das Kunst­mu­seum Wolfsburg das Thema zugleich, indem es sich selbst als Ort der Entschleu­ni­gung zur Verfügung stellt und Raum und Zeit anbietet für Reflexion – Refle­xi­ons­zeit, die in unserer Gesell­schaft zunehmend fehlt. Die Katalog­pu­bli­ka­tion und ein diffe­ren­ziertes Rahmen­pro­gramm bilden kunst­über­grei­fend die Plattform für die immer dring­li­cher werdende Diskus­sion um das gesell­schaft­liche und indivi­du­elle Bedürfnis nach Entschleu­ni­gung – aus philo­so­phi­scher, psycho­lo­gi­scher, sozio­lo­gi­scher, techno­lo­gi­scher und neuro­wis­sen­schaft­li­cher Sicht.

Die Ausstel­lung wird von Volks­wagen Financial Services unterstützt.