Freundschaften

Gemeinschaftswerke von Dada bis heute

13. 5. — 24. 9. 2023

Infos

In kaum einer Zeit waren die Ideen vom gemein­samen Arbeiten im Team sowie vom Bündeln verschie­dener Kompe­tenzen so populär wie in der Gegenwart. Lange bevor sich Künstler*innen zu permanent zusam­men­ar­bei­tenden Duos oder Kollek­tiven gruppierten, entstanden schon im 20. Jahrhun­dert aus den unter­schied­lichsten persön­li­chen, kunst- und zeithis­to­ri­schen Hinter­gründen gemein­schaft­lich reali­sierte Kunst­werke. Die Ausstel­lung Freund­schaften. Gemein­schafts­werke von Dada bis heute präsen­tiert eine Auswahl an faszi­nie­renden Werken aus Literatur, Musik, Malerei, Skulptur, Zeichnung, Film und Video, die von flüch­tigen Bekannten, engen Vertrauten, Freun­dinnen, Liebes­paaren oder auch von Konkurrent*innen gemeinsam geschaffen wurden.

Insbe­son­dere in der Rückschau lassen sich das kolle­giale Mitein­ander und die Entste­hungs­ge­schichte eines Kunst­werkes leicht ideali­sieren. Dabei förderte nicht nur das gegen­seitig inspi­rie­rende und oft auch vergnüg­liche Zusam­men­ar­beiten, sondern auch der (Wett-)Streit unter Freund*innen die progres­sivsten Ideen sowie neuen künst­le­ri­schen Methoden zutage. Das Ausfechten von Disputen und komplexe amouröse Bezie­hungen beglei­teten auch jenen Prozess, der zur vielleicht wichtigsten Entde­ckung der Surrea­listen führte, den sogenannten Cadavres exquis. Die Faltzeich­nungen gingen aus einem von Zufall und Impro­vi­sa­tion geprägten Spiel hervor und stellten durch ihre geteilte Autor­schaft ganz grund­sätz­lich das Ideal des indivi­du­ellen künst­le­ri­schen Ausdrucks infrage. Freund­schaften präsen­tiert eine beein­dru­ckende Auswahl der Cadavres exquis, etwa von André Breton, Yves Tanguy u. a. oder von Nusch Éluard und Paul Éluard.

Kolla­bo­ra­tive Werke entstanden aber nicht nur im Bereich der „klassi­schen“ Medien, sondern auch im Bereich der Filmkunst kam es immer wieder zu äußerst produk­tiven Gemein­schafts­ar­beiten, wie das surrea­lis­ti­sche Meister­werk Un chien andalou von Salvador Dalí und Luis Buñuel eindrucks­voll belegt.

Politi­sche oder soziale Ereig­nisse und Überzeu­gungen gaben häufig den Ausschlag dafür, dass sich Künstler*innen entweder spontan oder als koordi­nierte Aktion zusam­men­fanden, um auf diese Anlässe zur reagieren. In Mailand veran­lasste die 1960 publik gewordene Gruppen­ver­ge­wal­ti­gung einer algeri­schen Freiheits­kämp­ferin durch franzö­si­sche Soldaten sechs Künstler dazu, ihrem Protest durch das gemeinsam geschaf­fene Monumen­tal­ge­mälde Grand tableau antifa­sciste collectif Ausdruck zu verleihen.

Zur gleichen Zeit attackierten in Deutsch­land Georg Baselitz und Eugen Schöne­beck die gesell­schaft­li­chen Konven­tionen, indem sie innerhalb ihrer beiden Pandä­mo­ni­schen Manifeste alles, was als hässlich, obszön und blasphe­misch empfunden wurde, zu neuen Themen der künftigen Malerei erklärten.

Die sogenannten Neuen Wilden, zu denen u. a. Martin Kippen­berger, Werner Büttner und Albert Oehlen gehörten, versi­cherten sich Anfang der 1980er-Jahre durch das kolla­bo­ra­tive Schaffen ihrer gemein­samen Antihal­tung gegenüber der Welt und der etablierten Kunst­szene und schufen provo­kante Werke, die zwischen Größen­wahn und Selbst­zwei­feln oszillierten.

Auch jenseits des Atlantiks kam es zum gemein­samen Erschaffen von Kunst­werken, wie Untitled (Don’t Shoot Civilians) von Jenny Holzer und Lady Pink demons­triert: Aus der Kombi­na­tion von Jenny Holzers typogra­fi­schem Statement und den „Malereien“ der Graffi­tikünst­lerin Lady Pink geht ein wirkungs­mäch­tiges Bild hervor, welches auf die chaoti­schen politi­schen Zustände und die Gewalt­ex­zesse des nicara­gua­ni­schen Bürger­kriegs verweist und zugleich eine Mahnung zur fried­li­chen Ausein­an­der­set­zung darstellt.

Die 1985 gegrün­deten und bis heute anonym agierenden Guerrilla Girls verbünden sich in immer wieder wechselnden Konstel­la­tionen, um aus einer feminis­ti­schen Perspek­tive den Macho-Imperia­lismus zu demon­tieren und mit aktivis­ti­schen Mitteln für die Gleich­be­rech­ti­gung von Frauen im Kunst­be­trieb einzutreten.

Das trans­na­tio­nale Ausstel­lungs- und Publi­ka­ti­ons­pro­jekt Freund­schaften zeigt ein breites Spektrum von Beispielen gemein­schaft­lich geschaf­fener Kunst­werke aus unter­schied­lichsten Gattungen und erörtert, welche Art von Ereig­nissen für die Produk­tion der gezeigten Werke von zentraler Relevanz war. Die Ausstel­lung belegt eindrucks­voll, dass das Arbeiten in künst­le­ri­schen Netzwerken, sei es im Duo oder im größeren Kollektiv, keines­wegs ein neues Phänomen der Gegenwart ist, sondern in einer langen kultur­ge­schicht­li­chen Tradition steht.

Angesichts einer von Krisen und Unsicher­heiten geprägten Zeit, die auch die Kunstwelt mitein­schließt und umtreibt, erscheint es notwendig, die Aufmerk­sam­keit erneut auf die künst­le­ri­schen Experi­mente des 20. und 21. Jahrhun­derts zu richten, um somit die Poten­ziale von kreativen und kolla­bo­ra­tiven Prozessen insgesamt neu auszu­loten und die Möglich­keiten der Übertra­gung von Syner­gie­ef­fekten auf die Gesell­schaft zu untersuchen.

Das in Koope­ra­tion mit dem Mucem – Museum der Zivili­sa­tionen Europas und des Mittel­meers in Marseille – entwi­ckelte Ausstel­lungs­pro­jekt ist gewis­ser­maßen selbst Ausdruck einer freund­schaft­li­chen Zusam­men­ar­beit der Kuratorin Blandine Chavanne mit dem Künstler Jean-Jacques Lebel als wissen­schaft­li­chem Beirat. Die Länder der beiden Partner­in­sti­tu­tionen, Frank­reich und Deutsch­land, verbinden ebenfalls enge freund­schaft­liche Bande.

Beglei­tend zur Ausstel­lung ist eine umfang­reich illus­trierte Publi­ka­tion im Hatje Cantz Verlag erschienen (heraus­ge­geben von Blandine Chavanne und Jean-Jacques Lebel mit Andreas Beitin und Jean François Chougnet), die Essays, ausführ­liche Werktexte und Inter­views namhafter Autor*innen enthält, um die Geschichte und Hinter­gründe der gemein­schaft­lich entstan­denen Kunst­werke darzu­stellen (dt. und frz. Ausgabe, jeweils 304 Seiten, ca. 400 Abb., 42 Euro im Shop des Kunst­mu­seum Wolfsburg).


Kuratorin
Blandine Chavanne

Wissen­schaft­li­cher Beirat
Jean-Jacques Lebel


Nusch Éluard, Paul Éluard und unbekannt, Cadavre exquis, ca. 1930 Buntstift auf schwarzem Papier, 32,5 × 24 cm, Sammlung David und Marcel Fleiss, Galerie 1900−2000, Paris, Foto: Galerie 1900–2000, Paris

Publikation

„Diese fesselnde, kluge und hinter­grün­dige Ausstel­lung, die im Grunde ja selbst ein Kunstwerk ist, lädt definitiv zum Wieder­kommen und nochmal anschauen ein.“

Braun­schweiger Spiegel, Martin Brandes, 19. Mai 2023

Freund­schaften präsen­tiert eine beein­dru­ckende Auswahl der Cadavres exquis, etwa von André Breton, Yves Tanguy oder von Nusch Éluard und Paul Éluard.“

Der Spiegel, 20. Mai 2023

„Die Ausstel­lung Freund­schaften. Gemein­schafts­werke von Dada bis heute im Kunst­mu­seum Wolfsburg zeigt bis zum 24. September, dass Kunst­pro­duk­tion oft alles andere als ein einsamer Vorgang ist.“

NDR kultur, Janek Wiechers, 15. Mai 2023

„Wenn Freunde gemeinsam künst­le­risch wirken, entsteht etwas, dass auch für andere sichtbar wird.“

Deutsch­land­funk Kultur, Fazit, 9. Mai 2023

„Eine Hommage an die Zusam­men­ar­beit sind die rund 100 ausge­stellten Werke – manche wurden von befreun­deten Künstlern erschaffen, andere von Konkur­renten oder Liebesaffären.“

Myself, Juni Ausgabe

Die Ausstel­lung findet in Koope­ra­tion mit
dem Mucem in Marseille statt.

Mit freund­li­cher Unter­stüt­zung von

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