Gesammelte Werke I. Zeitgenössische Kunst seit 1968
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Anlässlich seines fünfjährigen Bestehens präsentiert das Kunstmuseum Wolfsburg erstmals nahezu alle Arbeiten seiner umfassenden Sammlung zeitgenössischer Kunst sowie Neuerwerbungen des Jahres 1999.
Noch vor Eröffnung des Museums wurde 1992 die Bipolarität von Sammlung und Ausstellung als zentraler Aspekt der Museumskonzeption festgeschrieben. Neben der Organisation einer Vielzahl von Ausstellungen stellte das Kunstmuseum das Wachsen seiner Sammlung regelmäßig in der Ausstellungsreihe Tuning Up #1–5 vor. Das Profil der Sammlung zielt dabei nicht auf Vollständigkeit, sondern auf das Hervorheben markanter künstlerischer Positionen. Der zeitliche Beginn der Sammlung wird durch Minimal Art, Concept Art und Arte Povera markiert. Bis in die jüngste Gegenwartskunst hinein erfolgte eine Konzentration auf Werkgruppen, die im Gegensatz zu Einzelwerken einen ausführlicheren Einblick in die von den jeweiligen Künstlern vertretenen Haltungen geben.
Die Ausstellung der „Gesammelten Werke I“ beginnt in der Großen Halle des Museums mit Bruce Naumans raumgreifender Videoinstallation „Falls, Pratfalls and Sleights of Hand“ aus dem Jahr 1993. In dem aus fünf großen Videoprojektionen bestehenden Ensemble bearbeitet Nauman das Thema Körpererfahrung und stellt kinematografische Experimente zu Repetition, Zirkularität und zeitlicher Verlangsamung der Bilder an. Ebenso sind Videoarbeiten Naumans aus den Jahren 1968 und 1969 zu sehen, die sich bereits mit ähnlichen Fragestellungen befassten und welche zusammen mit der „Skulptur 10 Heads Circle (In and Out)“ (1990) sowie dem Mappenwerk „Frankfurt Portfolio“ (1990) einen repräsentativen Einblick in das Werk des Künstlers geben.
Von Nam June Paik wird die Arbeit „Egg Grows No. 4“ (1984) zu sehen sein, in welcher sich der Künstler ironisch dem Thema der Evolution und des Wachstums annähert. Ein Ei wird von einer Kamera gefilmt und auf acht in ihrer Größe zunehmende Monitore übertragen. So wird der Eindruck eines wachsenden Eis, welches sich schließlich zu teilen scheint, erzeugt.
Allan McCollums Installation „Over 10.000 Individual Works“ (1987–89) untersucht mit ihren über zehntausend technoiden, auf Massenproduktion verweisenden Einzelobjekten das Verhältnis von Individualität und Masse. James Welling, dessen Wolfsburg-Serie (1994) zusammen mit McCollums Arbeit gezeigt wird, befasst sich in seinen Fotografien mit Fragen der Produktion und der Historie der Produktionsstätte Wolfsburg.
Im Zentrum der großen Halle präsentiert das Kunstmuseum Werke und Werkgruppen von Carl Andre, Jan Dibbets, Stanley Brouwn und Jannis Kounellis und spannt damit einen Bogen von den 70er-Jahren bis zur Gegenwart. Positionen der Minimal und Concept Art werden mit zeitgenössischen minimalistischen Ansätzen kontrastiert.
Die „Großen Geister“ von Thomas Schütte weisen den Weg zu Fotoarbeiten von Cindy Sherman, Jeff Wall und Andreas Gursky. Die inszenierte Fotografie Shermans wird anhand von den „Untitled Film Stills“, den „Disgust“ und den „Sex Pictures“ exemplifiziert. Andreas Gursky ist unter anderem mit „Bundestag“ (1998) vertreten, einer Arbeit, die aufgrund der Unbestimmbarkeit des dargestellten Raumes, seiner Schichten und Spiegelungen den Betrachter herausfordert.
Das Bilderzimmer Georg Herolds wurde erstmals 1995 im Kunstmuseum ausgestellt und speziell für die damalige Ausstellung des Künstlers „XTOONE“ konzipiert. Das Ensemble vereinigt Arbeiten, die in den Jahren 1988 bis 1995 entstanden sind und in der Regel am Beginn von ‚Versuchsreihen‘ des Künstlers standen. Es finden sich Beispiele für Ziegelstein-Bilder, Collagen aus Plastiktüten, vier Kaviarbilder und zwei Multiple-Vitrinen, die den traditionellen Kunstbegriff infrage stellen und den Betrachter systematisch verunsichern.
René Daniëls und Elizabeth Peyton, deren Werk im Kunstmuseum 1998 in Einzelausstellungen zu sehen war, sind mit Werkgruppen vertreten. Während Daniëls mit seiner Malerei einen wichtigen Standpunkt der Malerei in den 80er-Jahren repräsentiert, und in seinen Bildern Elemente von Jugendkultur und Punk mit Bildpoesie und intellektuellem Sprachwitz verband, entdeckt die junge amerikanische Malerin am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts traditionelle künstlerische Ausdrucksweisen wieder und füllt diese mit persönlichen, zeitgemäßen Inhalten.
Der nächste Bereich der Ausstellung zeigt mit Douglas Gordon, Gary Hume, Richard Billingham und Damien Hirst einige Hauptvertreter der Young British Art. Von Gordon wird die Videoinstallation „24 Hour Psycho“ (1993) zu sehen sein, in welcher der Künstler ausgehend von Hitchcocks Filmklassiker aufzeigt, wie fragil die Illusion der Echtzeit im Film wirklich ist. Von Gary Hume zeigen wir nur einen Teil der von uns erworbenen Lackbilder, da sich die übrigen als Leihgaben im Britischen Pavillon der Biennale di Venezia befinden.
Von Richard Billingham folgt eine Serie seiner dokumentarisch anmutenden Familienporträts und Interieurs, die in schonungsloser Offenheit die Tristesse der Lebensumstände seiner Familie darlegen. Die britische Sequenz wird durch „A Hundred Years“ (1990) von Damien Hirst abgeschlossen. Der Glaskörper und seine Aufteilung erinnern an einen Versuchsaufbau, in welchem Fliegen unterschiedlichen Lebensbedingungen ausgesetzt sind und in den zwei Hälften des Gehäuses Nahrung, Schutz oder den Tod finden.
Panamarenkos poetische Arbeit „Flugzeug“ aus dem Jahr 1967 steht für das Interesse des Künstlers an technischen Zusammenhängen, an Konstruktion und an den Möglichkeiten, die die Technik dem Menschen offeriert.
Peter Fischli und David Weiss sind mit jener unbetitelten Videoinstallation vertreten, die das Künstlerduo 1995 auf der Biennale di Venezia im Schweizer Pavillon präsentiert hat. Auf zwölf Monitoren sind etwa 96 Stunden unterschiedlichsten Filmmaterials zu sehen, welches – mit einer Handkamera aufgenommen – all das zeigt, was man den Künstlern zufolge macht, „wenn man keine Kunst macht.“
Die kürzlich erworbene Rauminstallation „Menschlich“ des französischen Künstlers Christian Boltanski war im vergangenen Jahr im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris zu sehen. Die Arbeit vereinigt jene 1300 Porträtfotografien, die der Künstler zwischen 1971 und 1994 in seinen Installationen verwendet hat. Aus Klassenfotos herausvergrößerte Porträts von Schülern eines jüdischen Gymnasiums in Wien aus dem Jahr 1931, aus Fotos einer spanischen Kriminalzeitschrift sowie aus einem gefundenen Fotoalbum hat Boltanski ein eindringliches Werk des Erinnerns geschaffen, in welchem Täter und Opfer kaum mehr zu unterscheiden sind.
Der Rundgang setzt sich mit Werken und Installationen von Gilbert & George fort. Darunter „The Tuileries“ (1971), eine Saloneinrichtung aus Sesseln, Tisch und Wandzeichnungen sowie den fotografischen Werken „The Major’s Port“ (1972), „Fuck“ (1977) und „Roads“ (1991).
Tony Craggs alchimistisches Ensemble „Forminifera“ (1991) verweist in seiner biomorphen Formensprache bereits auf die Werkgruppe Mario Merz‘, dessen Iglus und Tische schon als Ikonen der Arte Povera gelten können.
In der Fotogalerie des Kunstmuseums werden komplexe Werkgruppen Nobuyoshi Arakis, die „Tokyo Novelle“ (1995), und Fotoarbeiten Paul Grahams aus der Serie „Empty Heaven“ gezeigt.
Zur Ausstellung erscheint ein vom Kustos der Sammlung, Holger Broeker, bearbeiteter Katalog in dem alle Werke der Sammlung farbig abgebildet und ausführlich beschrieben sind:
Kunstmuseum Wolfsburg. Gesammelte Werke 1. Zeitgenössische Kunst seit 1968
25 x 28 cm, 449 S., 344 s/w und 229 farbige Abb.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 1999
ISBN 3–89322-870–5