Jeff Wall
Landscapes and Other Pictures
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Zum ersten Male werden alle neun Landschaften, die der kanadische Künstler Jeff Wall (Vancouver, 1946) seit 1980 geschaffen hat, im Rahmen einer Ausstellung präsentiert. Diese werden sieben weiteren Bildern gegenübergestellt, die fast alle jüngeren Datums sind. Darin unterscheidet sich diese Präsentation von anderen Ausstellungen, die Wall in den vergangenen Jahren in deutschen Ausstellungshäusern gehabt hat.
Das Thema der Ausstellung ist die Betrachtung von Walls Landschaftsbildern auf dem Hintergrund der Landschaft als kunsthistorischem Genre und die Stellung und Funktion eben dieser innerhalb seines Gesamtwerkes. Zwischen den Landschaften, in welchen der Mensch seine Spuren hinterlassen hat und den Bildern, in denen die menschliche Figur sich auf der ersten Ebene befindet, existiert ein innerer Zusammenhang.
Außer der Landschaft hat Wall auch andere bewährte malerische Genres wie das Figurenbild, das Historienbild, das Porträt, das Interieur und sogar das Stillleben neu belebt. Er hat sie nicht zuletzt dadurch aktualisiert, dass er diese im Kontext der modernen Kunst und der heutigen Gesellschaft mit einem neuen Inhalt versieht. Dies verwirklicht er nahezu wörtlich, schon indem er es versteht, – ohne Rücksicht auf das klassische Medium der Ölfarbe auf Leinwand zu nehmen – seine Bilder als Leuchtplatten mit cibachromen Dias zu konstruieren. Die Malerei mit ihrer farbigen Vergangenheit wird so gegen das Licht der Fotografie gehalten. Damit erzielt er einen Verfremdungseffekt gegenüber der klassischen Malerei.
Die Großbild-Dias von Wall sind das Ergebnis von sorgfältigen Inszenierungen. Nichts wird dabei dem Zufall überlassen, und Menschen, Tiere und Gegenstände bekommen eine von vornherein festgelegte Rolle zugewiesen. Ähnlich Poussin, der in seinem Atelier die Bilder die er malte, zuerst als Theaterszenen mit Figuren minutiös inszenierte. Bei Wall nimmt die Suche nach dem richtigen Ort zumeist sehr viel Zeit in Anspruch, auch wenn es sich dabei um Plätze handelt, die er bereits seit Jahren kennt.
Seine Bilder erwecken nicht den Eindruck eines flüchtigen Film-Stills, die einen Augenblick einfrieren. Im Gegenteil, wegen der höchsten Konzentration von Zeit und Raum erzielt er eine Dichte, die auch kennzeichnend für das Medium der Malerei ist.
Selbstverständlich werden die Landschaften nicht von Wall inszeniert, weil sie ja bereits in Vancouver und Umgebung existent sind. Mit ihren Bauernhöfen, Pfaden, Reihenhäusern, Brücken, Bäumen, Fabriken, Bienenkörben, Wassergraben und Supermärkten bilden sie Produkte von anonymen, kollektiven Inszenierungen. Wenn darin Menschen vorkommen, dann sind diese so klein, dass sie kaum auffallen; wie in den flämischen Landschaften des sechzehnten Jahrhunderts, in denen sich die biblischen Figuren kaum wiederfinden lassen. Die Landschaft des hoch industrialisierten Zusammenlebens lässt nur in weiten Fernen an eine pastorale Landschaft denken, wie etwa Claude Lorrain diese im goldenen Licht Italiens malte. Die Harmonie, wenn sie je bestanden hat, ist für immer dahin. Was übrigbleibt, ist eine nostalgische Erinnerung. Im Gegensatz dazu tragen die Landschaften von Wall die Spuren und Narben unserer industriellen Periode.
Wall interessiert sich wegen der Geschichte der menschlichen Besiedelung für die Landschaft als Thema seiner Kunst wie auch für das malerische Genre. Außer der Wahl der Landschaft, flach oder hügelig, sind es auch der Ausschnitt, der Standort der Kamera, die Entfernung, die Komposition, das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von Perspektiven und last but not least die Anwendung von Licht und Farbe, die durch den Künstler variiert werden. Fast die Hälfte seiner Landschaften sind von einem extremen Querformat: sehr niedrig und sehr breit. Andere Werke verfügen über Abmessungen, die für dieses Genre als gängiger anzusehen sind. Manchmal liegt der Horizont hoch, dann wieder niedrig. In „The Old Prison“, 1987 wurde eine Vogelperspektive angewandt. Es gibt Landschaften, in denen die Linien von Pfaden, Wegen oder Baumreihen die Perspektive betonen. In unserer Ausstellung sind Landschaften mit Tieren („Steve Farm, Steveston“, 1980), eine Flussansicht („The Bridge“, 1980) und eine Berglandschaft („Coastal Motifs“, 1989) zu sehen, die wie eine Fantasielandschaft von Pieter Breughel d. Ä. anmutet, der sich ebenfalls auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit stützte, wie z. B. die Alpen, die er auf seinem Weg nach Italien überquerte. Die Titel der Arbeiten Jeff Walls ähneln denen holländischer Landschaften aus dem siebzehnten Jahrhundert: „The Crooket Path“ (Der sich schlängelnde Pfad), „The Bridge“ (Die Brücke), „The Old Prison“ (Das alte Gefängnis). Klassischer geht es fast nicht mehr.
Obwohl Wall nicht viele Landschaftsbilder gemacht hat, ergründete er dieses Genre dennoch gründlich. Das Leitmotiv schlechthin ist die Darstellung des menschlichen Körpers in einer umfassenden Variation von Haltungen, Gesten und Expressionen. In dieser Hinsicht bildet „A Hunting Scene“, 1994, einen Übergang zu den reinen Figurenbildern. Ein Stadtrand mit einem Streifen Natur zwischen einem Parkplatz und Häusern, bildet den Hintergrund für eine moderne Jagdszene. Die Betonung liegt hier bereits deutlich und mit ein klein wenig Ironie auf der dramatischen Handlung. Dies gilt noch stärker für „Restoration“, 1993, einem Panorama einer immensen winterlichen Berglandschaft mit einer Armee auf der Flucht, welches von einer Gruppe junger Restauratoren wiederhergestellt wird. Diese Arbeit ist doppelbödig: eine von Jeff Wall inszenierte Figurengruppe agiert vor dem Landschaftsbild eines Panoramas.
Die „Landschaft“ von „Untangling“, 1994, dagegen bildet den Hintergrund für ein als Malerei fotografiertes menschliches Drama. In einem Warenhaus für Apparate, Motoren, Land- und Gartenbaugeräte, Schläuche und Taue sitzt im Vordergrund ein Mann, der ganz in die Beschäftigung versunken ist, eine Rolle verschiedenfarbiger Seile, welche wie ein gordischer Knoten aussehen, zu entwirren. Im Hintergrund ist ein Mann dabei, in einem Regal etwas zu suchen. Die Neonbeleuchtung verleiht dem Interieur einen starken Hell-Dunkel-Effekt wie in einem Bild von Caravaggio.
Sowohl die städtische „Landschaft“, welche etwa von einer Mauer begrenzt ist, als auch das Exterieur der Landschaft, welche wegen des weiten Horizontes und des schier unendlichen Himmels als unbegrenzt erscheint, bilden dramatische Hintergründe der „condition humaine“. So ist es dann auch die menschliche Figur, die Landschaft und Figurenbild miteinander verbindet, im einen Fall der Betrachter des Bildes, im anderen der Akteur.
Trotz der kunsthistorischen und theoretischen Erwägungen, die der Arbeit von Jeff Wall zugrunde liegen und abgesehen von der durchdachten und gründlichen Arbeitsweise, mit welcher er seine Bilder herstellt, hinterlassen sie doch dank der Intelligenz, der Erfindungsgabe, dem strengen und monumentalen Bildaufbau, der Kraft der Dramatik, der Deutlichkeit der Symbolsprache und dem im Wahrsten Sinn strahlenden Charakter der Vorstellungen einen ganz direkten und starken Eindruck. Als Quellen der Schönheit, die aus der industriellen modernen westlichen Gesellschaft destilliert worden sind, stellen sie ein reines Vergnügen für den Betrachter dar. Auch wegen des menschlichen Maßes, welches darin trotz aller Verunstaltungen durch das Leben bewahrt bleibt.
Katalog:
Jeff Wall. Landscapes and Other Pictures
Texte von Jeff Wall und Camiel van Winkel (dt./engl.)
22 x 27,5 cm, 88 S., 6 s/w und 27 farbige Abb.
Cantz Verlag, Ostfildern 1996
ISBN 3–89322-855–1
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