Nan Goldin
I'll be Your Mirror. Fotografien 1972–1996
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„Ich fotografiere aus Liebe, aus meiner Vorstellung von Schönheit und Sehnsucht heraus.“ Nan Goldin erforscht in ihrem Werk die Bandbreite menschlicher Beziehungen. Ihre Bilder erzählen von Freundschaft und Sexualität, von Nähe und Verlust. Seit fünfundzwanzig Jahren führt Goldin, die 1953 in Washington geboren wurde und in Boston aufwuchs, das visuelle Tagebuch ihres Lebens. Es ist zugleich eine Chronik der kulturellen, sozialen und sexuellen Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft seit den Siebzigerjahren. Die Ausstellung, vom Whitney Museum of American Art organisiert, gibt erstmals einen umfassenden Einblick in das fotografische Werk einer bedeutenden und kompromisslosen Künstlerin unserer Zeit.
Die frühen Siebzigerjahre waren in Amerika und Europa eine Zeit des Aufbruchs. Eine junge Generation erprobte neue Lebensformen jenseits familiärer Bindungen und restriktiver Moral.
Nan Goldin lebte in Boston mit Freundinnen und Drag Queens zusammen, d. h. Männern, die sich als Frauen fühlen und inszenieren. Goldins frühe Schwarz-Weiß-Aufnahmen huldigen den glamourösen Auftritt ihrer Freunde, ihrer Faszination für Kinostars der Dreißiger- und Vierzigerjahre, ihrem Rollenspiel: sich selbst neu zu erfinden, eine Identität zu kreieren ohne Rücksicht auf die biologische Festlegung weiblich oder männlich. Hab Mut, Du selbst zu sein! Diese Botschaft der Queens hat Nan Goldin in ihren Bildern eingefangen und als Maxime ihres eigenen Lebens erkannt.
Fasziniert von zeitgenössischer Modefotografie, lernte Goldin während ihres Studiums an der Boston Museum School die Porträtisten der Zwanzigerjahre, wie etwa August Sander, kennen und schätzen. Die Intensität ihrer Menschendarstellung verdankt sie jedoch weniger einer nüchternen Sachlichkeit als dem extrem persönlichen Blick auf Männer und Frauen, die ihr nahestehen. Ihre Fotos sind unmittelbar, direkt, schonungslos, doch nie verletzend. „Bilder machen ist eine Art, jemanden zu berühren“, sagt Nan Goldin, „eine Form von Zärtlichkeit. Ich schaue mit einem warmen, nicht einem kalten Auge.“ Charakteristisch wie dieser Blick ist auch Goldins spezielle Kombination von Farbe und künstlichem Licht. Die üppigen Farben ihrer Bilder beschwören die schwüle Atmosphäre eines Lebensgefühls zwischen Bett und Bar, Sex und Drogen.
1978 ging Goldin nach New York. In Clubs zeigte sie, anfangs zu Livemusik von Punkbands, ihre Fotos als Dia-Show. Später entwickelte sie diese Vorführungen zur selbstständigen Kunstform, halb Performance, halb Fotoroman, mit einem eigens zusammengestellten Soundtrack. Daraus entstand 1981 „Die Ballade der sexuellen Abhängigkeit“ (The Ballad of Sexual Dependency). Diese Enzyklopädie der Gefühle, Beziehungen und Verletzungen wurde von Nan Goldin über die Jahre hinweg immer wieder aktualisiert und fand schließlich weltweit ihren Weg in Kunstausstellungen und Museen.
So wie Goldins Fotografien das Leben ihrer Freundinnen und Freunde begleiten, erzählen sie auch davon, was ihr selbst widerfährt: 1984 wird sie von einem Freund brutal zusammengeschlagen, 1988 ist sie von Drogen zerstört und am Ende. Danach, in der Entzugsanstalt, entstehen Bilder voller schmerzlicher Selbstvergewisserung.
1989, nach ihrer Genesung und dem Verlust enger Freunde durch Aids, werden Goldins Fotos strenger und ruhiger. Sie entdeckt das natürliche Licht und arbeitet immer häufiger im Freien. Die Protagonisten ihrer Bilder aber sind dieselben geblieben: David, Suzanne, Sharon, Siobhan, dazu neue Freunde aus Berlin, wo sie 1991/92 als Gast des DAAD arbeitete. Mittlerweile reicht die ‚Familie‘ Nan Goldins bis nach Japan. Gemeinsam mit Nobuyoshi Araki verwirklichte sie dort 1994 das Fotoprojekt „Tokyo Love“.
Nan Goldins eindringliche und einfühlsame Bilder sind so persönlich wie allgemein verständlich: Ein bewegendes Dokument der condition humaine.