Paul Graham
Empty Heaven. Fotografien aus Japan 1989-1995
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Paul Graham wurde 1956 in Harlow, England, geboren, lebt in London und gilt seit Jahren als der Star der neuen britischen Fotografie. Siene Arbeiten lassen soziales Interesse und politisches Engagement spüren, um das nicht erst, seit dem Begriff “political correctness” in der Kunstszene eine immer größere Rolle spielt.
In der Bildfolge ‘Beyond Caring’ nimmt Paul Graham 1984/85 das englische Sozialsystem unter die Lupe. Mitte der 80er Jahre fotografierte er den eskalierenden Konflikt in Irland, das Ergebnis nannte er ‘Troubled Land’. Zwischen 1988 und 1992 reiste Graham durch neun westeuropäische Länder – einschließlich das gerade wiedervereinigte Deutschland – dabei entstand seine Bilder-Serie ‘New Europe’, mit der 1993 das Fotomuseum in Winterthur eröffnet wurde. 1994 versuchte er den Waffenstillstand in Irland darzustellen; großformatige Farbfotografien zeigen den grauen Himmel über den nordirischen Städten.
Paul Graham ist ein sehr subtiler Beobachter; obwohl seine Aufnahmen wie Schnappschüsse wirken, erfasst er oft intuitiv das Lebensgefühl der einer ganzen Generation, einer Gesellschaft oder einer Nation. Die Fotos ergeben nie eine komplette Reportage, sie sind keine geschlossene Auswahl; sie sind ein Fragment, eine Aneinanderreihung von Ausschnitten und bildlichen Metaphern, die das Unsichtbare sichtbar machen wollen: Krieg, Rezession, Arbeitslosigkeit, Konsum, Freundschaft; Untergangsgefühl und Aufbruchstimmung am Ende unseres Jahrhunderts.
‘Empty Heaven’ – Fotografien aus Japan 1989–1995 ist Paul Grahams erste Museumsausstellung in Deutschland. Die Werkgruppe, bestehend aus 55 farbigen Fotografien, zeigt Bilder, die er in den letzten sieben Jahren auf zahlreichen Riesen in das “Land der aufgehenden Sonne” machte. Paul Graham hat sich intensiv mit den sozio-kulturellen Strukturen und der Geschichte dieses Landes auseinandergesetzt.
1941 erklärte Japan mit dem Angriff auf Pearl Harbour den Vereinigten Staaten und England den Krieg und trat damit in den Zweiten Weltkrieg ein. Nach dem Abwurf von zwei amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki Anfang August 1945, endete am 15. August 1945 das Streben der Japaner nach einer Vormachtstellung in Asien mit der bedingungslosen Kapitulation. Fünfzig Jahre später macht sich Paul Graham daran, mit seinen Fotografien das scheinbare nationale Vergessen aufzubrechen. Er versucht zu dem Punkt vorzudringen, an dem die mühsam verdrängten Erinnerungen an die leidvolle Vergangenheit mit der hektischen, aber völlig disziplinierten Betriebsamkeit der modernen Wirtschaftsmacht Japan kollidieren.
Paul Grahams Motive haben wenig gemeinsam mit der klischeehaften Vorstellung vom Leben in Japan. Die meisten Bilder sind Nahaufnahmen, sie sind nicht mit dem Weitwinkelobjektiv des klassischen Fotojournalismus, aber alle mit direktem Blitz fotografiert. Ihnen wohnt eine extreme Klaustrophobie inne, eine unausweichliche Konfrontation mit dem Traumatischen und mit dem Trivialen.
Die Gesichter der Angestellten des Tokioter Bankenviertels, die kunstvoll frisierten Locken einzelner Teenager in der U‑Bahn und die Porträts junger japanischer Frauen; ihnen stellt Paul Graham das Grauen der Atombombe gegenüber: Ausschnitte aus historischen Fotografien, Fetzen von radioaktiv verstrahlter Haut in Gefäßen mit Formalin konserviert, verbrannte Körperteile. Daneben bildet er immer wieder die betont fröhliche Welt des Alltags ab: künstliche Blumen, Kuscheltiere im Badezimmer, Geschenkpapier in extrem bunten Farben, kolorierter Zucker in einer aufwendig bemalten Zuckerdose und das strahlende Wandgemälde der aufgehenden Sonne. Und überall der Eindruck der totalen Kontrolle von persönlicher Freiheit: eine massive Tür aus Stahl, der verschlungene Wurzelballen einer Pfalnze, in einem zu kleinen Glas am Wachstum gehindert, mit Stoff umwickelte Bäume; selbst das Sonnensymbol, die runde Scheibe, wurde zur Zierde eines Brückenpfeilers in Beton gegossen.
Als Ganzes gesehen, bilden die scheinbar zusammenhanglosen Sujets eine Einheit, das Triviale wirkt auf einmal schockierend, das Schockierende alltäglich. Fragen über Japan und Fragen über uns alle stellen sich dem Betrachter. Müssen wir die Bürden unserer Geschichte tragen oder sollen wir uns vor ihnen verwahren? Was soll verheimlicht, was neu geschrieben, was geschönt und was vergessen werden? Welchen Preis müssen wir zahlen, um die Ordnung in unserer Gesellschaft aufrecht zu halten?