Peter Fischli/David Weiss
Arbeiten im Dunkeln
Infos
Seit 1979 arbeiteten die Schweizer Künstler Peter Fischli (geb. 1953) und David Weiss (1946–2012) zusammen, und seit dieser Zeit widmeten sie ihre ganze Aufmerksamkeit der alltäglichen Welt. Hier fanden sie ihre Themen und ihren Fundus, um sie als Kopien oder Readymades in die Kunstwelt zurückzubringen und damit unser Bewusstsein für die Realitäten der Welt zu schärfen.
Die erste Retrospektive, die vom Walker Art Center, Minneapolis, organisiert wurde und anschließend in Pennsylvania, Ohio, San Francisco und Boston zu sehen war, wird nun erst- und einmalig in Europa, im Kunstmuseum Wolfsburg gezeigt. Sie umfasst Arbeiten von 1979–1997, darunter Fotografien aus der Wurstserie (1979), die Airports (1991) und abenteuerliche Balancen aus „Stiller Nachmittag“ (1984–1985), über die die Künstler sagen: „Am schönsten ist das Gleichgewicht, kurz bevor‘s zusammenbricht“. Dieser stille Humor zeigt sich auch in den kleinen Tonskulpturen der Serie „Plötzlich diese Übersicht“ (1981) oder den Gummiskulpturen, die 1986–1989 entstanden sind. Zu den weithin bekannten Arbeiten gehören die aus Polyurethan geschnitzten und bemalten Repliken von Alltagsgegenständen. Zu ihnen gehört das, was die Künstler brauchen, um ihre Arbeiten herzustellen oder der Galerist benötigt, um eine Ausstellung aufzubauen: Handwerkszeug, Latten, Flaschen, Pinsel, die Milchtüte zur Stärkung, die Coca-Cola zum Wachbleiben oder die Zigaretten zur Beruhigung. Mit dem Arrangement dieser Trompe-l’œil irritieren sie den unvorbereiteten Betrachter wie den Kenner immer wieder aufs Neue. Haben die Künstler vergessen aufzuräumen, oder ist das bereits ein Teil der Ausstellung?
Ohne Zweifel ist der 1987 fertiggestellte Film „Der Lauf der Dinge“ (30 Min.) die populärste Arbeit von Fischli/Weiss. Eine Kettenreaktion einfachster chemischer, physikalischer und mechanischer Reaktionen hält den Zuschauer ständig im Bann und stimuliert Befürchtungen über die kreative Erfinderlust der eigenen Sprösslinge, wenn sie unbeobachtet zu Hause fantasievoll experimentieren. Kontrastiert wird dieser „Actionfilm“ von den Eindrücken aus dem Züricher Abwassersystem, die das Kanalvideo (1992) ans Licht bringt.
Ein Glanzpunkt auf der Biennale von Venedig 1995 war ihre Videoinstallation „Ohne Titel“ im Schweizer Pavillon. Die Szenerie gleicht einer Lounge, in der Menschen warten und eine gewisse Zeit verbringen. Um 12 Farbfernseher sind Stühle gruppiert. Hier können die Besucher sich Szenen aus dem Alltag ansehen. Ein Wasserspender sorgt für die nötige Erfrischung. Gespannt verfolgt man die einzelnen Sequenzen, in der Erwartung, dass plötzlich etwas Sensationelles passiert, ein Drama vielleicht oder etwas Komisches, gelegentlich Schockierendes, wie im TV-Programm. Aber nichts Außergewöhnliches sorgt für Spannung, auch der gelegentliche Blick auf die übrigen Monitore verstärkt die Gewissheit, dass man auch dort keine „Action“ verpassen würde. Allmählich legt sich das Gefühl von Unruhe und Rastlosigkeit. Man kann sich zurücklehnen und Menschen bei ihren Tätigkeiten zusehen, den Serviererinnen, die das Mittagessen aus der Küche zu ihren Gästen bringen, den Arbeitern, die einen Baum fällen oder den Jägern, die die erlegten Füchse fachmännisch am Geländewagen für den Abtransport verzurren. Der Zuschauer befindet sich wie ein Beteiligter mitten im Geschehen, weil keine Zeitsprünge stattfinden, sondern lediglich der Wechsel der Betrachterperspektive. Diese Geschwindigkeit entspricht der Echtzeit der Ereignisse. Nichts ist durch schnelle Schnittfolgen komprimiert. Für die durch „Action-Film und MTV“ erprobten Augen wird die Wirklichkeit zu einer Entdeckung der Langsamkeit. Wir scheinen etwas zum ersten Mal zu sehen, was wir bereits kennen. Bice Curiger hat diese Diktion verglichen mit Schüleraufsätzen zum Thema: „Mein schönstes Ferienerlebnis“.
In dieser Arbeit, die jetzt zur Sammlung des Kunstmuseums Wolfsburg gehört, haben die beiden Künstler in 96 Stunden über 120 Szenarien aus dem Alltag zusammengestellt. Sie schätzen das Geringste und Banalste, die Poetik des wirklichen Lebens. Ihre Kunst ist niemals belehrend, keinem moralischen oder existenziellen Thema verschrieben, noch einseitigen formalen oder stilistischen Ausprägungen unterworfen.
Neu aufgenommen wurde in die Wolfsburger Ausstellung das Projekt der Künstler für die documenta X in Kassel. Das achtstündige Video, das in Abschnitten um Mitternacht auf dem Kulturkanal von Arte zu sehen war, wird nun erstmalig als dreiteilige Videoinstallation im Kunstmuseum Wolfsburg gezeigt werden. Das Video basiert auf fotografischem Archivmaterial, das durch Überblendungen aneinandergereiht und nach Themen gruppiert ist. Schnappschüsse von Reisen und Ausflügen, Landschaften und Sonnenuntergängen, klischeehafte Touristenbilder, die scheinbar Reiseprospekten entnommen sein könnten und keine besonderen Eigenschaften besitzen. David Weiss sagt dazu: „Wenn man Bilder macht, dann sollte ihr Thema nicht die Körnigkeit oder der Stil des Fotografen sein. Formale Aspekte sollten nicht Inhalt sein. Die Dinge sollten in der Bildmitte sein, und das Wetter sollte schön sein.“
Katalog
Peter Fischli, David Weiss. Arbeiten im Dunkeln
Texte von Elizabeth Armstrong, Arthur C. Danto, Patrick Frey und Boris Groys
17 x 21,5 cm, 143 S., 97 s/w und 30 farbige Abb.
Cantz Verlag, Ostfildern 1997
ISBN 3–89322-347–9
vergriffen