Pietro Donzelli

Das Licht der Einsamkeit

15. 2. — 19. 5. 1997

Infos

Obwohl der italie­ni­sche Fotograf Pietro Donzelli (1915–1998) bereits 1951 an der epoche­ma­chenden Ausstel­lung „Subjek­tive Fotografie“ in Saarbrü­cken teilnahm, ist ihm erst heute erstmals eine Museums­aus­stel­lung in Deutsch­land gewidmet. Einige Fotos von Donzelli wurden bereits 1995 im Kunst­mu­seum Wolfsburg im Rahmen der Ausstel­lung „Italie­ni­sche Metamor­phose, 1943–1968“ gezeigt. Angesichts der Qualität seiner Fotos ist es erstaun­lich, dass seine Arbeiten so selten zu sehen waren. Zum Teil ist das auf die Beschei­den­heit des Künstlers zurück­zu­führen und vielleicht auch auf seinen relativ späten Einstieg in das Metier: Erst 33-jährig fing er an zu fotogra­fieren. Von 1934 an arbeitete er bis zu seiner Pensio­nie­rung bei der italie­ni­schen staat­li­chen Telefon­ge­sell­schaft als Organi­sator und Archivar der Fotothek, wodurch er sich seine finan­zi­elle Unabhän­gig­keit sicherte. Aufgrund seiner Persön­lich­keit hat sich Donzelli vom modernen Kunst­markt fernge­halten und ist vielleicht auch aus diesem Grund nicht so bekannt, wie es seinen Arbeiten gebührt.

Mit unserer – etwa 120 Fotos umfas­senden – Ausstel­lung „Das Licht der Einsam­keit“ tritt nun der einund­acht­zig­jäh­rige Künstler aus dem Schatten der nur dem Fachpu­blikum bekannten Fotografen. Um seine Arbeit auch dem breiteren Publikum bekannt­zu­ma­chen, erscheint die ausstel­lungs­be­glei­tende Publi­ka­tion als erste, auch inter­na­tional zugäng­liche Monografie.

Die wichtigsten Arbeiten Donzellis entstanden in der Nachkriegs­zeit, den Fünfziger- und Sechzi­ger­jahren, als der italie­ni­sche Neorea­lismus neue Ausdrucks­formen in der bildenden Kunst, dem Film und der Fotografie entwi­ckelte. Eine zeitge­mäße Antwort auf gesell­schaft­liche Entwick­lungen, Spannungen und Gegen­sätze. Doch für Donzelli, wie auch für Luchino Visconti, bildeten die poetisch-realis­ti­schen Filme des franzö­si­schen Regis­seurs Jean Renoir eine besondere Inspirationsquelle.

Die Ausstel­lung „Das Licht der Einsam­keit“ konzen­triert sich auf einige repor­ta­ge­ar­tige Serien, die in Zusam­men­ar­beit mit dem Direktor des Museums für Moderne Kunst Frankfurt, Jean-Chris­tophe Ammann ausge­wählt wurden. Diese Fotore­por­tagen sind in den verschie­densten Provinzen Italiens entstanden: Kalabrien, Sardinien, Sizilien und Landschafts­struk­turen aus dem Umland von Siena (Crete Senesi). Er dokumen­tiert darin auf eine sehr eigen­stän­dige Weise das Leben und die Arbeits­be­din­gungen der meist ländli­chen Bevöl­ke­rung. Doch finden sich auch – wie in seinen Serien Neapel und Mailand – Berichte über das Leben in der Stadt, wie es sich nach den Zerstö­rungen des Zweiten Weltkrieges auf typisch italie­ni­sche Art norma­li­sierte. Die umfang­reichste Serie Terra senz’ombra (Land ohne Schatten) die er Anfang der Fünfzi­ger­jahre in der Poebene aufnahm, stellt etwa die Hälfte der Exponate, die meist Origi­nal­ab­züge der Entste­hungs­zeit sind.

Die Fotos von Donzelli dokumen­tieren vor allem eine vorin­dus­tri­elle, ländliche Lebens- und Arbeits­weise, fern von jeder Moder­nität. Wir sehen einen Stroh­wagen, gezogen von Ochsen, einen Mann mit einem Esel auf einer Landzunge, eine Figur im Ruderboot, einen Friseur­laden in einem Holzver­schlag, ärmliche Kinder, die vom Hochwasser des Po überflu­teten Gebiete, den Fuß eines Obdach­losen als Zeugnis tödlicher Stille. Aus dem schnell­le­bigen Blick­winkel unserer Zeit gesehen, erscheint die Ruhe, die von diesen Fotos ausgeht, als etwas Schönes und Unerreich­bares, obwohl es nicht mehr als vierzig Jahre her ist, dass sie fotogra­fisch fixiert wurde. Mithilfe dieses Festhal­tens, des Grund­prin­zips der Fotografie, wurde sogar die Langsam­keit zum Still­stand gebracht. Zusätz­lich werden im Bildfeld der endlosen weiten Landschaften die Bewegungen der Menschen völlig absor­biert und ein graues unermess­li­ches Licht ohne Schatten breitet sich aus.

Das Bild einer Haus-zu-Haus-Verkäu­ferin auf dem Fahrrad als Zeichen einer vergan­genen langsamen Welt wirkt als das Gegenbild des schnellen ‚Shopping‘ in einem Super­markt. Viele Szenen erscheinen uns heute idyllisch, als Ausdruck eines nostal­gi­schen Still­standes wie bei Ruhepausen. Ein Mann im Unterhemd, der auf dem Bett Klari­nette spielt, Menschen, die auf alten, vergam­melten Küchen­stühlen sitzend Zeitung lesen, schla­fende Fischer. Zu dieser Zeit schrieben die Massen­me­dien noch nicht den Lebens­rhythmus vor, noch steuerten und beschleu­nigten sie die Art und Weise der Betrach­tung. Diese Fotos zeigen eine italie­ni­sche Landschaft der Vergan­gen­heit, die es so nicht mehr gibt, auch weil sich unser Blick auf die Dinge geändert hat. Auch für viele Italiener, die in den Sechzi­ger­jahren als Arbeits­emi­granten nach Deutsch­land gekommen sind, ist diese Ferne nur noch aus ihrer eigenen Erinne­rung bekannt.

Beim ästhe­ti­schen Genießen dieser fast paradie­sisch anmutenden Reinheit darf aber nicht übersehen werden, dass sich hinter diesem schönen Schein der harte Kampf ums Dasein verbirgt. Die Arbeit von Donzelli ist auch zu verstehen als Chronik der kargen Fünfzi­ger­jahre. Seine Fotos sind Dokumente der harten erschöp­fenden Arbeit, der Armut und des Elends, wie die Fotos von Dorothea Lange, die während der Krise der Dreißi­ger­jahre im Auftrag der Farm Security Adminis­tra­tion die schwie­rige Lage der Landwirt­schaft in den Verei­nigten Staaten fotogra­fierte. Mit dieser fotogra­fi­schen Richtung war Donzelli vertraut.

Die Position Donzellis innerhalb der Fotografie wurde von ihm selbst klar in verschie­denen Aufsätzen definiert, und er hat sie konse­quent in seine Arbeit umgesetzt. Für ihn ist Fotografie immer mehr gewesen als nur die mithilfe grafi­scher Techniken konstru­ierte ästhe­ti­sche Dimension des autonomen Kunst­werkes. Er betonte die Bedeutung des Themas und vertei­digte die Reportage und die Dokumen­tar­fo­to­grafie. Eine Fotografie kann ein Zeitdo­ku­ment sein, doch hat sie darüber hinaus eine künst­le­ri­sche Bedeutung, die aus der Sensi­bi­lität des Fotografen und seinem beson­deren persön­li­chen Blick­winkel auf die Dinge erwächst.

Donzelli sieht das graue und oft hässliche Leben mit mildem und poeti­schem Blick. Die Mischung aus der Misere der Welt und der Humanität des Künstlers findet sich in der Synthese einer melan­cho­li­schen Schönheit. Es ist diese Emotion, die von seinen Fotos übertragen wird.

Katalog
Pietro Donzelli. Das Licht der Einsamkeit/The Light of Solitude
Texte von Jean-Chris­tophe Ammann und Ennery Taramelli (dt./engl.)
20 x 25 cm, 195 S., 112 s/w Abb.
Wolfsburg 1997
ISBN 3–9804827‑5–8
vergriffen