RealSurreal. Meisterwerke der Avantgarde-Fotografie. Das Neue Sehen 1920-1950. Sammlung Siegert

15. 11. 2014 — 6. 4. 2015

Ausstellungsansichten

Infos

Bildet Fotografie die Wirklich­keit natur­ge­treu ab, oder ist sie ein insze­niertes Bild? Das Kunst­mu­seum Wolfsburg beant­wortet die Frage im 175. Jubilä­ums­jahr der Erfindung der Fotografie mit einem umfas­senden Blick auf die Avant­garde-Fotografie zwischen 1920 und 1950. Präsen­tiert werden mit der Ausstel­lung „RealSur­real” rund 200 Meister­werke aus der in diesem Umfang noch nie gezeigten, bedeu­tenden Münchner Sammlung Siegert zur Fotografie des Neuen Sehens zwischen Neuer Sachlich­keit und Surrea­lismus in Deutsch­land, Frank­reich und der Tschechoslowakei.

Die Künstler

Eugène Atget – Herbert Bayer – Hans Bellmer – Aenne Biermann – Brassaï – František Dr­tikol – Jaromír Funke – Florence Henri – André Kertész – Germaine Krull – Herbert List – Man Ray – László Moholy-Nagy – Albert Renger-Patzsch – August Sander – Josef Sudek – Maurice Tabard – Raoul Ubac – Umbo – Wols u. a.

Das Neue Sehen

Überle­gungen zur bildli­chen Evidenz der Fotografie sind so alt wie die Fotografie selbst. Schon im 19. Jahrhun­dert stritt man darüber, ob die Fotografie durch die mecha­ni­sche Wie­dergabe der Wirklich­keit imstande sei, das Leben umfas­sender und gültiger darzu­stellen als etwa die Malerei. Nicht zuletzt aus der Reaktion auf die empfun­denen Unzuläng­lich­keiten des Fotogra­fi­schen entstand der sogenannte Pikto­ria­lismus, der die Fotografie nach den Regeln der Malerei ausrich­tete, um ihr mehr künst­le­ri­sche Kompetenz zu verleihen. Um 1920 besann sich eine neue Genera­tion inter­na­tio­naler Fotografen wieder auf die spezifi­schen Eigen­schaften der fotogra­fi­schen Mittel und entwi­ckelte diese zu einer zeitge­mäßen Wirklich­keits­an­eig­nung weiter. Das ungebro­chene Fortschreiten der Techni­sie­rung in der modernen Gesell­schaft hatte den Umgang mit der Fotografie verändert: Handliche Rollfilm­kameras kamen in großer Stückzahl auf den Markt und ermög­lichten auch dem Laien das unkom­pli­zierte Fotogra­fieren. Die zuneh­mende Verwen­dung fotogra­fi­scher Illus­tra­tionen in den Massen­me­dien und in der Werbung erhöhte die Nachfrage nach guten Fotogra­fien und Fotografen. Sie verän­derte auch die Sehge­wohn­heiten des Publikums, wodurch das Neue Sehen zum Ausdruck einer medial geprägten Wahrneh­mung der Wirklich­keit wurde. Die Po­sitionen reichten von der exakten Aufzeich­nung des Gesehenen in der Porträt- und Indust­riefotografie über die Wahl neuar­tiger Ausschnitte und Perspek­tiven am Bauhaus bis hin zur Fotomon­tage, zu techni­schen Experi­menten wie Fotogramm und Solari­sa­tion sowie zum insze­nierten Bild im Surrealismus.

Der apparative Blick

Die Fotografen der Neuen Sachlich­keit wollten die Welt so zeigen, wie sie war. Für Albert Renger-Patzsch war die Fotografie das „zuver­läs­sige Werkzeug“, das die sicht­baren Dinge der Welt, insbe­son­dere die Erzeug­nisse moderner Technik, objektiv wiedergab und insofern der subjek­tiven Wahrneh­mung des mensch­li­chen Auges überlegen war. László Moholy-Na­gy ging mit seinem berühmten Verdikt, dass »in Zukunft nicht nur der Schrift‑, sondern auch der Fotoun­kun­dige als Analphabet gelten wird«, noch einen Schritt weiter. Er sprach dem Fotoap­parat die entschei­dende Funktion zu, die mensch­liche Wahrneh­mung technisch zu erweitern und das moderne Leben der Metro­polen, Maschinen und der Massen­ge­sell­schaft adäquat darzu­stellen: »Der fotogra­fi­sche Apparat kann unser optisches Instru­ment, das Auge, vervoll­kommnen bzw. ergänzen.« Ungewohnte Ansichten und Perspek­tiven führten zu frappie­renden Bildern. Während aus der Vogel­per­spek­tive Gebäude und Straßen zu Kompo­si­tionen aus Linien und Flächen wurden, konnte eine Aufnahme in schräger Unter­sicht eine ungeahnte Dynamik erzeugen und die starke Vergrö­ße­rung eines Objektes zu ge­heimnisvollen Verfrem­dungen führen.

Das Reale und das Surreale

Die Surrea­listen schließ­lich erkannten ausge­rechnet im »realis­ti­schen« Aufzeich­nungs­in­stru­ment der Fotografie ein weiteres künst­le­ri­sches Mittel der »écriture automa­tique«, die André Breton auch als »Gedan­ken­fo­to­grafie« bezeichnet hatte. Unter der Oberfläche der sicht­baren Dinge sollte das Irratio­nale, Mystische und Wider­sprüch­liche erkundet werden. Dokumen­ta­risch arbei­tende Fotografen wie Eugène Atget und Karl Bloss­feldt wurden zu Inspi­ra­toren der Bewegung. Man druckte ihre Arbeiten in den surrea­lis­ti­schen Zeitschriften ab, denn eine Pflanze, fotogra­fisch isoliert und insze­niert, konnte außerhalb ihres botani­schen Kontextes allerlei magische Assozia­tionen auslösen. Während die manipu­lierten und insze­nierten Fotogra­fien gerade von der Wahrhaf­tig­keit des »Es ist so gewesen« profi­tierten, was ihre rätsel­haften Aussagen nur bekräf­tigen konnte, ließ sich eines der wichtigsten künst­le­ri­schen Mittel des Surrea­lismus, die kombi­na­to­ri­sche Gestal­tung, nicht zuletzt in der Fotomon­tage besonders überzeu­gend umsetzen, indem hetero­gene Bildteile neue überra­schende Sinnzu­sam­men­hänge eingingen. Die Collagen Karel Teiges haben wie Brassaïs Aufnahmen des nächt­li­chen Paris eine surreale Qualität, die in anderer Form auch die traum­nahen Licht­ab­drücke der Fotogramme Man Rays in sich tragen. Das Ziel der Verschmel­zung von Traum und Wirklich­keit, wie sie Breton in seinem ersten Manifest des Surrea­lismus postu­liert hatte, strebten sowohl die insze­na­to­ri­sche Fotografie als auch die vielen fototech­ni­schen Experi­mente mit Mehrfach­be­lich­tungen, Negativ­ab­zügen und Solari­sa­tion an. Insgesamt konnte es so in der Fotografie des Neuen Sehens zu regel­rechten »Kippbil­dern« kommen, die je nach real-surrealem Fotografen und Betracht­erstand­punkt als nüchtern objektive Wieder­gabe der sicht­baren Welt oder als imaginär subjek­tive Wirklich­keits­re­fle­xion gelten können.

Die Ausstel­lung „RealSur­real” führt den Besucher durch das Neue Sehen in Deutsch­land, den Surrea­lismus in Paris und die Avant­garde in Prag mit Themen wie Porträt, Akt, Objekt, Archi­tektur und Experi­men­telles. Ausgehend von einem Prolog, in dem beispiel­hafte Fotogra­fien des 19. Jahrhun­derts die Gemein­sam­keiten und Unter­schiede zum Neuen Sehen zeigen, lässt sich im Kunst­mu­seum Wolfsburg das Neue Sehen anhand seltener Origi­nal­ab­züge namhafter Fotografen wörtlich nehmen und die Bandbreite und Vielschich­tig­keit der Fotografie zwischen real und surreal neu entdecken. Neben den rund 200 Fotogra­fien machen auch histo­ri­sche Fotobü­cher und Zeitschriften sowie seltene Künst­ler­bü­cher und Beispiele avant­gar­dis­ti­scher Umschlag­ge­stal­tungen den neuen Blick auf die Welt erlebbar.

Einige berühmte Filmbei­spiele von Luis Buñuel, László Moholy-Nagy, Hans Richter u. a., die in einem 45-minütigen Loop permanent in der Ausstel­lung gezeigt werden, machen auf die frucht­bare Wechsel­be­zie­hung zwischen Avant­garde-Fotografie und dem Kino dieser Zeit aufmerksam. Dass die künst­le­ri­schen Frage­stel­lungen des Neuen Sehens auch noch heute Relevanz besitzen, wird anhand signi­fi­kanter Fotogra­fien und Foto-Instal­la­tionen von Nobuyoshi Araki, Gilbert & George, Paul Graham, Andreas Gursky, Cindy Sherman, Jeff Wall und James Welling aus der Sammlung des Kunst­mu­seum Wolfsburg dargestellt.

In Koope­ra­tion mit dem Inter­na­tio­nalen Filmfest Braun­schweig zeigt das Kunst­mu­seum Wolfsburg das viertei­lige Filmpro­gramm „Das magische Auge“. Ein großes Sonder­pro­gramm real-surrealer Filme, inspi­riert von der Ausstel­lung RealSur­real, wird zudem im Rahmen des Festivals vorge­stellt. Infor­ma­tionen: WWW.FILMFEST-BRAUNSCHWEIG.DE.

Der Katalog zur Ausstel­lung mit Texten von Antonín Dufek, Björn Egging, Ivo Kranz­felder, Ulrich Pohlmann und Bernd Stiegler erscheint im Wienand Verlag. Erhält­lich für 28 € im Museum­shop. Buchhan­dels­aus­gabe: ca. 34 €, 256 Seiten.

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