Tuning Up #4
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Mit Tuning Up #4 setzt das Kunstmuseum Wolfsburg seine Ausstellungsreihe mit ausgewählten Werken aus dem Bestand seiner Sammlung fort. Das thematische Spektrum der ausgestellten Arbeiten konzentriert sich in dieser Folge auf die conditio humana. Die Parameter menschlichen Seins, die zwischen Geburt und Tod angesiedelten Grundbedürfnisse des Menschen, sich zwischen gesellschaftlichen Konventionen und individueller Selbstbehauptung entzündende Konflikte, aber auch die mit der Vergewisserung der eigenen Person verbundene Erforschung der eigenen Körperlichkeit, sind gerade innerhalb der letzten dreißig Jahre Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung gewesen.
Die Stringenz und Kompromisslosigkeit, mit der einige Arbeiten der Sammlung diese Thematik verfolgen, fordert zu Vergleichen mit den Werken der gleichzeitig stattfindenden Ausstellung „Bruce Nauman. Image/Text 1966–1996“ heraus, von denen nicht wenige das Thema der conditio humana radikal aufgreifen. Insofern wird die Absicht früherer Tuning-Up-Ausstellungen, Korrespondenzen mit gleichzeitig stattfindenden Wechselausstellungen herzustellen, auch in diesem Fall einzulösen versucht. Von den Werken, die seit Tuning Up #3 für die Sammlung erworben wurden, können daher in diesem Zusammenhang nicht alle gezeigt werden.
Nam June Paiks „Andy Warhol Robot“ im Foyer des Museums ist als Hommage an denjenigen Künstler zu verstehen, der nicht zuletzt mit seinen Filmen auf viele seiner Kollegen prägend gewirkt hat. Bruce Nauman nimmt auf diese Vorbildfunktion Warhols in einem Interview mit Chris Dercon Stellung, das im Katalog zur Nauman-Austellung publiziert wird. Mit fotografischen Arbeiten zwischen 1972 und 1985 sind Gilbert & George im Nordsaal vertreten. In ihnen thematisieren die beiden Künstler sowohl äußerst private wie öffentliche Aspekte des Lebens. Von Cindy Sherman wird das neu erworbene Konvolut von den Film Stills bis zu den Disgust Pictures gezeigt, in denen die Künstlerin die Fremdbestimmtheit bzw. die Künstlichkeit verschiedener Lebenssituationen inszeniert. Einen doppelten, aber trotz der authentischen Situation nicht weniger künstlich wirkenden Blick in den Saal der Börse von Hong Kong gewährt Andreas Gurskys Diptychon „Hong Kong Stock Exchange“.
Wie ein vorweggenommener Kommentar zu Gurskys Diptychon erscheint Bruce Naumans „10 Heads Circle/In and Out“ und „Frankfurt Portfolio“, die sich in den Ostkabinetten anschließen. Letztere Arbeit besteht aus einer Serie von vier Collagen mit dem Motiv von Perfect Balance (MMK Frankfurt/M.), in denen das Motiv des über dem Monitor schwebenden Wachskopfes ähnlich durchdekliniert wird wie die Wachsköpfe in den beiden Versionen von „10 Heads Circle“ (In and Out bzw. Up and Down): Der manipulierte Mensch als Täter und Opfer zugleich. Weniger an physische als vielmehr an psychische Manipulation mahnt Andy Warhols großformatiges Gemälde „Double Be a Somebody with a Body“: Das dem Werbeslogan für ein Anabolikum entnommene Motiv des vorbildlichen Körpers wird von Warhol im Spannungsfeld zwischen idealer Erscheinung und selbstkritischem memento mori gehalten. Damien Hirsts „A Hundred Years“ (Neuerwerbung) konkretisiert die alltäglich gewordene Manipulierbarkeit bzw. Verfügbarkeit von Leben und Tod in einer laborähnlichen Situation: Die mit Zuckerlösung ernährten Fliegenlarven werden, sobald sie fliegen können, von einer elektrischen Fliegenfalle angelockt und bei Berührung mit dem Starkstromelement getötet. Völlig dem Aspekt des Wachstums hingegen sind die Arbeiten von Nam June Paik und Mario Merz gewidmet. Paiks „Egg Grows No. 4“ simuliert das Wachsen eines Hühnereis bis zur Erzeugung einer neuen Generation, indem das Ei in Echtzeit auf einer Reihe an Größe zunehmender Monitore abgebildet wird.
Wachstum im weitesten Sinne thematisiert Mario Merz’ Ensemble im Südsaal, insbesondere durch das Prinzip der Fibonacci-Reihe, die Arbeiten wie „Igloo Fibonacci“ (Neuerwerbung) und „Leone di Montagna“ zugrunde liegt oder zumindest dort einen wesentlichen Bestandteil bildet. Das Iglu als Archetypus der Behausung, wie er in „Objet cache-toi“ (Neuerwerbung) evident wird, Reisigbündel und der mit Obst und Gemüse gedeckte Tisch (Tavola)verweisen auf Grundbedürfnisse des Menschen. Der Tisch ist spiralförmig angelegt und verweist mit dieser progressiven Form wiederum auf das Fibonacci-Prinzip, auf dem die Spirale basiert. Durch die Kombination des Tisches mit der Leihgabe der Zeitungen („6765“) wird „Tavola a spirale per festino di giornali datati il giorno del festino“ (Spiraltisch zum Fest der Zeitungen mit dem Datum des Festtages) von 1976 erstmals wieder in der Form der Erstinstallation gezeigt. Den ‚Schlussstein‘ des Rundgangs im 2. Obergeschoß bilden zwei Werke Anselm Kiefers: „20 Jahre Einsamkeit“ und „The Secret Life of Plants“ (1996). Während man die erstere Arbeit als Resümee von Kiefers Schaffen der 70er- und 80er-Jahre betrachten kann und nicht zuletzt als Kommentar einer sehr privaten Seite seiner Biografie bewerten muss, strahlt „The Secret Life of Plants“ als eines seiner jüngsten Bilder den Geist einer universellen Kosmologie aus.
In den Galerieräumen des 1. Obergeschosses sind schließlich ca. 50 Fotoarbeiten von Nobuyoshi Araki aus der Serie Tokyo Novelle zu sehen, die den Themenkomplexen Stadtlandschaft, Eros und Tod gewidmet sind, sowie in diesem Kontext 12 Fotografien des Engländers Paul Graham, die dem Verhältnis von Tradition und Gegenwart im Leben der Japaner nachgehen. Die Arbeiten Stanley Brouwns im Erdgeschoss der Galerie widmen sich im weitesten Sinne dem Bewegen in der Welt: neun repräsentative Arbeiten aus dem eigenen Bestand, die zwischen 1963 und 1994 entstanden sind, sowie neue Arbeiten von 1995 und 1996.
Katalog
Tuning Up #4
15 x 18 cm, 32 S., 3 s/w und 12 farbige Abb.
Wolfsburg 1997
vergriffen