Tuning Up #4

24. 5. — 14. 9. 1997

Infos

Mit Tuning Up #4 setzt das Kunst­mu­seum Wolfsburg seine Ausstel­lungs­reihe mit ausge­wählten Werken aus dem Bestand seiner Sammlung fort. Das thema­ti­sche Spektrum der ausge­stellten Arbeiten konzen­triert sich in dieser Folge auf die conditio humana. Die Parameter mensch­li­chen Seins, die zwischen Geburt und Tod angesie­delten Grund­be­dürf­nisse des Menschen, sich zwischen gesell­schaft­li­chen Konven­tionen und indivi­du­eller Selbst­be­haup­tung entzün­dende Konflikte, aber auch die mit der Verge­wis­se­rung der eigenen Person verbun­dene Erfor­schung der eigenen Körper­lich­keit, sind gerade innerhalb der letzten dreißig Jahre Gegen­stand künst­le­ri­scher Ausein­an­der­set­zung gewesen.

Die Stringenz und Kompro­miss­lo­sig­keit, mit der einige Arbeiten der Sammlung diese Thematik verfolgen, fordert zu Verglei­chen mit den Werken der gleich­zeitig statt­fin­denden Ausstel­lung „Bruce Nauman. Image/Text 1966–1996“ heraus, von denen nicht wenige das Thema der conditio humana radikal aufgreifen. Insofern wird die Absicht früherer Tuning-Up-Ausstel­lungen, Korre­spon­denzen mit gleich­zeitig statt­fin­denden Wechsel­aus­stel­lungen herzu­stellen, auch in diesem Fall einzu­lösen versucht. Von den Werken, die seit Tuning Up #3 für die Sammlung erworben wurden, können daher in diesem Zusam­men­hang nicht alle gezeigt werden.

Nam June Paiks „Andy Warhol Robot“ im Foyer des Museums ist als Hommage an denje­nigen Künstler zu verstehen, der nicht zuletzt mit seinen Filmen auf viele seiner Kollegen prägend gewirkt hat. Bruce Nauman nimmt auf diese Vorbild­funk­tion Warhols in einem Interview mit Chris Dercon Stellung, das im Katalog zur Nauman-Austel­lung publi­ziert wird. Mit fotogra­fi­schen Arbeiten zwischen 1972 und 1985 sind Gilbert & George im Nordsaal vertreten. In ihnen thema­ti­sieren die beiden Künstler sowohl äußerst private wie öffent­liche Aspekte des Lebens. Von Cindy Sherman wird das neu erworbene Konvolut von den Film Stills bis zu den Disgust Pictures gezeigt, in denen die Künst­lerin die Fremd­be­stimmt­heit bzw. die Künst­lich­keit verschie­dener Lebens­si­tua­tionen insze­niert. Einen doppelten, aber trotz der authen­ti­schen Situation nicht weniger künstlich wirkenden Blick in den Saal der Börse von Hong Kong gewährt Andreas Gurskys Diptychon „Hong Kong Stock Exchange“.

Wie ein vorweg­ge­nom­mener Kommentar zu Gurskys Diptychon erscheint Bruce Naumans „10 Heads Circle/In and Out“ und „Frankfurt Portfolio“, die sich in den Ostka­bi­netten anschließen. Letztere Arbeit besteht aus einer Serie von vier Collagen mit dem Motiv von Perfect Balance (MMK Frankfurt/M.), in denen das Motiv des über dem Monitor schwe­benden Wachs­kopfes ähnlich durch­de­kli­niert wird wie die Wachs­köpfe in den beiden Versionen von „10 Heads Circle“ (In and Out bzw. Up and Down): Der manipu­lierte Mensch als Täter und Opfer zugleich. Weniger an physische als vielmehr an psychi­sche Manipu­la­tion mahnt Andy Warhols großfor­ma­tiges Gemälde „Double Be a Somebody with a Body“: Das dem Werbe­slogan für ein Anabo­likum entnom­mene Motiv des vorbild­li­chen Körpers wird von Warhol im Spannungs­feld zwischen idealer Erschei­nung und selbst­kri­ti­schem memento mori gehalten. Damien Hirsts „A Hundred Years“ (Neuerwer­bung) konkre­ti­siert die alltäg­lich gewordene Manipu­lier­bar­keit bzw. Verfüg­bar­keit von Leben und Tod in einer labor­ähn­li­chen Situation: Die mit Zucker­lö­sung ernährten Fliegen­larven werden, sobald sie fliegen können, von einer elektri­schen Fliegen­falle angelockt und bei Berührung mit dem Stark­strom­ele­ment getötet. Völlig dem Aspekt des Wachstums hingegen sind die Arbeiten von Nam June Paik und Mario Merz gewidmet. Paiks „Egg Grows No. 4“ simuliert das Wachsen eines Hühnereis bis zur Erzeugung einer neuen Genera­tion, indem das Ei in Echtzeit auf einer Reihe an Größe zuneh­mender Monitore abgebildet wird.

Wachstum im weitesten Sinne thema­ti­siert Mario Merz’ Ensemble im Südsaal, insbe­son­dere durch das Prinzip der Fibonacci-Reihe, die Arbeiten wie „Igloo Fibonacci“ (Neuerwer­bung) und „Leone di Montagna“ zugrunde liegt oder zumindest dort einen wesent­li­chen Bestand­teil bildet. Das Iglu als Arche­typus der Behausung, wie er in „Objet cache-toi“ (Neuerwer­bung) evident wird, Reisig­bündel und der mit Obst und Gemüse gedeckte Tisch (Tavola)verweisen auf Grund­be­dürf­nisse des Menschen. Der Tisch ist spiral­förmig angelegt und verweist mit dieser progres­siven Form wiederum auf das Fibonacci-Prinzip, auf dem die Spirale basiert. Durch die Kombi­na­tion des Tisches mit der Leihgabe der Zeitungen („6765“) wird „Tavola a spirale per festino di giornali datati il giorno del festino“ (Spiral­tisch zum Fest der Zeitungen mit dem Datum des Festtages) von 1976 erstmals wieder in der Form der Erstin­stal­la­tion gezeigt. Den ‚Schluss­stein‘ des Rundgangs im 2. Oberge­schoß bilden zwei Werke Anselm Kiefers: „20 Jahre Einsam­keit“ und „The Secret Life of Plants“ (1996). Während man die erstere Arbeit als Resümee von Kiefers Schaffen der 70er- und 80er-Jahre betrachten kann und nicht zuletzt als Kommentar einer sehr privaten Seite seiner Biografie bewerten muss, strahlt „The Secret Life of Plants“ als eines seiner jüngsten Bilder den Geist einer univer­sellen Kosmo­logie aus.

In den Galerie­räumen des 1. Oberge­schosses sind schließ­lich ca. 50 Fotoar­beiten von Nobuyoshi Araki aus der Serie Tokyo Novelle zu sehen, die den Themen­kom­plexen Stadt­land­schaft, Eros und Tod gewidmet sind, sowie in diesem Kontext 12 Fotogra­fien des Englän­ders Paul Graham, die dem Verhältnis von Tradition und Gegenwart im Leben der Japaner nachgehen. Die Arbeiten Stanley Brouwns im Erdge­schoss der Galerie widmen sich im weitesten Sinne dem Bewegen in der Welt: neun reprä­sen­ta­tive Arbeiten aus dem eigenen Bestand, die zwischen 1963 und 1994 entstanden sind, sowie neue Arbeiten von 1995 und 1996.

Katalog
Tuning Up #4
15 x 18 cm, 32 S., 3 s/w und 12 farbige Abb.
Wolfsburg 1997
vergriffen