Wolfgang Tillmans
Wer Liebe wagt, lebt morgen
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Ein Fuß, ein Wollstrumpf und ein Schuh. Der Strumpf ist soweit heruntergerutscht, dass der Fuß zur Hälfte entblößt im Schuh steckt. Der Fotograf hat seine Kamera genau in dem Bereich scharfgestellt, wo Haut, Stoff und Leder aufeinandertreffen. Nicht ohne Grund: Ein Blick auf dieses Bild von Wolfgang Tillmans, und sofort erinnert man sich an jenes seltsame Gefühl, mit verrutschten Strümpfen herumzulaufen. „Direkte Fotografie“ (Straight Photography) und Inszenierung, Genauigkeit und Subjektivität sind für Tillmans kein Widerspruch: „Mich interessiert, wie ich Menschen und Dinge so fotografieren kann, dass das, was ich an und in ihnen sehe, hinterher auf dem Bild immer noch so aussieht, wie ich es empfunden hatte.“
1968 in Remscheid geboren, studierte Tillmans 1990–92 in Bournemouth, England, arbeitete in London und New York und lebt gegenwärtig in London. Seit 1989 erscheinen seine Fotografien in Kultur- und Musikzeitschriften, beispielsweise i‑D, London, Interview, New York, Spex, Köln. Nicht nur mit diesen Fotostrecken, auch mit der Präsentationsform seiner Arbeiten in Ausstellungen, der Mischung von Formaten, Gruppierung von unterschiedlichsten Motiven, Gleichbehandlung von Originalfoto und Reproduktion, hat Tillmans der zeitgenössischen Kunst neue Impulse gegeben.
Das Kunstmuseum Wolfsburg hat gemeinsam mit Wolfgang Tillmans jetzt eine Ausstellung erarbeitet, die den Blick auf bislang weniger beachtete Themen und Motive lenkt. Auch wenn es ihm hauptsächlich um Menschen geht, fotografiert er stets jeden Sonnenuntergang, der ihn fasziniert, genauso Stillleben oder herumliegende Kleidung. So stehen diesmal weniger die schon legendär gewordenen Bilder aus der Jugend- und Modeszene im Mittelpunkt, dafür erscheinen Stoffe und alltägliche Kleidungsstücke als Protagonisten. Traditionelle Themen der Fotografie werden neu interpretiert: Ansichten von Städten, Architektur, Natur, Tieren, Stillleben. Besonders in seinen Stillleben erweist Tillmans der klassischen Künstlerfotografie à la Edward Weston seine Referenz. Die Dinge, gleichwohl kompositorisch perfekt arrangiert, erscheinen jedoch nicht überhöht und in zeitloser Schönheit erstarrt, sondern in ihrem alltäglichen Umfeld gesehen. Peperoni liegen auf einer Zeitung ausgebreitet, zwischen die porösen Oberflächen von Schneckengehäusen wird eine Puderquaste geschmuggelt, Zellophanhüllen unterstreichen die Künstlichkeit von Treibhaussalat und Hollandtomate.
Indem er einen fast liebevoll zu nennenden Blick auf banale, unscheinbare Dinge und Situationen lenkt, enthüllt Wolfgang Tillmans die Poesie des Alltags. Diese Nahsicht wird ergänzt durch die Weite in seinen Großstadt- und Landschaftsaufnahmen. Raureifbedeckte Felder in der Uckermark, trostloses Grenzland zwischen China und Macau, New Yorks nächtlicher Großstadthimmel als Schauplatz für die Jagd auf Hausbesetzer per Helikopter. Das Foto eines jungen Mannes, der von einer graffitibesprühten Betonbrüstung über das Lichtermeer Manhattans blickt, wird zu einer modernen Adaption des romantischen Landschaftsbildes.
Wenn Tillmans sich kunsthistorisches wie populäres Bildmaterial aneignet und befragt, geschieht dies naturgemäß in dem Bewusstsein, dass unser Blick auf Welt immer schon von Bildern vorgeprägt ist. Doch fehlt seinen Arbeiten jeglicher didaktische Impetus. Vielmehr ist eine Neugier am Werk, die auch gegenüber noch so ‚kitschigen‘ Sujets wie Herbstlaub oder Rosenstrauch keine Berührungsängste kennt. Und plötzlich, wie durch ein Wunder, erhalten die Bilder ihre Unschuld zurück.
Katalog:
Wolfgang Tillmans. Wer Liebe wagt lebt morgen/For When I’m Weak I’m Strong (Ausgaben in Deutsch und Englisch)
Texte von Annelie Lütgens, Helen Molesworth und Collier Schorr
25 x 20 cm, 160 S., 107 farbige Abb.
Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 1996
deutsche Ausgabe: ISBN 3–89322-865–9, vergriffen
englische Ausgabe: ISBN 3–89322-888–8, vergriffen