Wolfgang Tillmans

Wer Liebe wagt, lebt morgen

7. 9. — 17. 11. 1996

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Ein Fuß, ein Wollstrumpf und ein Schuh. Der Strumpf ist soweit herun­ter­ge­rutscht, dass der Fuß zur Hälfte entblößt im Schuh steckt. Der Fotograf hat seine Kamera genau in dem Bereich scharf­ge­stellt, wo Haut, Stoff und Leder aufein­an­der­treffen. Nicht ohne Grund: Ein Blick auf dieses Bild von Wolfgang Tillmans, und sofort erinnert man sich an jenes seltsame Gefühl, mit verrutschten Strümpfen herum­zu­laufen. „Direkte Fotografie“ (Straight Photo­graphy) und Insze­nie­rung, Genau­ig­keit und Subjek­ti­vität sind für Tillmans kein Wider­spruch: „Mich inter­es­siert, wie ich Menschen und Dinge so fotogra­fieren kann, dass das, was ich an und in ihnen sehe, hinterher auf dem Bild immer noch so aussieht, wie ich es empfunden hatte.“

1968 in Remscheid geboren, studierte Tillmans 1990–92 in Bourne­mouth, England, arbeitete in London und New York und lebt gegen­wärtig in London. Seit 1989 erscheinen seine Fotogra­fien in Kultur- und Musik­zeit­schriften, beispiels­weise i‑D, London, Interview, New York, Spex, Köln. Nicht nur mit diesen Fotostre­cken, auch mit der Präsen­ta­ti­ons­form seiner Arbeiten in Ausstel­lungen, der Mischung von Formaten, Gruppie­rung von unter­schied­lichsten Motiven, Gleich­be­hand­lung von Origi­nal­foto und Repro­duk­tion, hat Tillmans der zeitge­nös­si­schen Kunst neue Impulse gegeben.

Das Kunst­mu­seum Wolfsburg hat gemeinsam mit Wolfgang Tillmans jetzt eine Ausstel­lung erarbeitet, die den Blick auf bislang weniger beachtete Themen und Motive lenkt. Auch wenn es ihm haupt­säch­lich um Menschen geht, fotogra­fiert er stets jeden Sonnen­un­ter­gang, der ihn faszi­niert, genauso Still­leben oder herum­lie­gende Kleidung. So stehen diesmal weniger die schon legendär gewor­denen Bilder aus der Jugend- und Modeszene im Mittel­punkt, dafür erscheinen Stoffe und alltäg­liche Kleidungs­stücke als Protago­nisten. Tradi­tio­nelle Themen der Fotografie werden neu inter­pre­tiert: Ansichten von Städten, Archi­tektur, Natur, Tieren, Still­leben. Besonders in seinen Still­leben erweist Tillmans der klassi­schen Künst­ler­fo­to­grafie à la Edward Weston seine Referenz. Die Dinge, gleich­wohl kompo­si­to­risch perfekt arran­giert, erscheinen jedoch nicht überhöht und in zeitloser Schönheit erstarrt, sondern in ihrem alltäg­li­chen Umfeld gesehen. Peperoni liegen auf einer Zeitung ausge­breitet, zwischen die porösen Oberflä­chen von Schne­cken­ge­häusen wird eine Puder­quaste geschmug­gelt, Zello­phan­hüllen unter­strei­chen die Künst­lich­keit von Treib­haus­salat und Hollandtomate.

Indem er einen fast liebevoll zu nennenden Blick auf banale, unschein­bare Dinge und Situa­tionen lenkt, enthüllt Wolfgang Tillmans die Poesie des Alltags. Diese Nahsicht wird ergänzt durch die Weite in seinen Großstadt- und Landschafts­auf­nahmen. Raureif­be­deckte Felder in der Uckermark, trost­loses Grenzland zwischen China und Macau, New Yorks nächt­li­cher Großstadt­himmel als Schau­platz für die Jagd auf Hausbe­setzer per Heliko­pter. Das Foto eines jungen Mannes, der von einer graffi­ti­be­sprühten Beton­brüs­tung über das Lichter­meer Manhat­tans blickt, wird zu einer modernen Adaption des roman­ti­schen Landschaftsbildes.

Wenn Tillmans sich kunst­his­to­ri­sches wie populäres Bildma­te­rial aneignet und befragt, geschieht dies natur­gemäß in dem Bewusst­sein, dass unser Blick auf Welt immer schon von Bildern vorge­prägt ist. Doch fehlt seinen Arbeiten jeglicher didak­ti­sche Impetus. Vielmehr ist eine Neugier am Werk, die auch gegenüber noch so ‚kitschigen‘ Sujets wie Herbst­laub oder Rosen­strauch keine Berüh­rungs­ängste kennt. Und plötzlich, wie durch ein Wunder, erhalten die Bilder ihre Unschuld zurück.

Katalog:
Wolfgang Tillmans. Wer Liebe wagt lebt morgen/For When I’m Weak I’m Strong (Ausgaben in Deutsch und Englisch)
Texte von Annelie Lütgens, Helen Moles­worth und Collier Schorr
25 x 20 cm, 160 S., 107 farbige Abb.
Cantz Verlag, Ostfil­dern-Ruit 1996
deutsche Ausgabe: ISBN 3–89322-865–9, vergriffen
englische Ausgabe: ISBN 3–89322-888–8, vergriffen