Zwischen Angst und Hoffnung, Verlust und Zusam­men­halt, Momenten des Abschieds und des Wieder­se­hens finden die Werke der ukrai­ni­schen Künst­lerin Iryna Vorona (*1987) eindrück­liche Bilder für die Auswir­kungen des russi­schen Angriffs­krieges auf die Zivil­be­völ­ke­rung von Kyjiw. Ihre Kohle­zeich­nungen nehmen vor allem Kinder, Frauen und ältere Menschen in den Blick – jene, die den Schrecken des Krieges oft am unmit­tel­barsten ausge­lie­fert sind. Die Werke werden so zu einem bewegenden visuellen Tagebuch, das nicht nur die Grausam­keit des Krieges zeigt, sondern auch den unerschüt­ter­li­chen Überle­bens­willen und die tiefe Mensch­lich­keit der Porträ­tierten. Mit feinen Linien und expres­sivem Strich hält Iryna Vorona sowohl indivi­du­elle Schick­sale als auch kollek­tive Erfah­rungen fest. Ihre Arbeiten sind zugleich künst­le­ri­sche Dokumente und ein Mahnmal gegen das Vergessen.

Iryna Vorona, Saatgut, 2024, Kohle auf Papier, 100 x 70 cm.
v.l. Genug, 2024, Zeichen­kohle auf Papier, 100 x 70 cm, Die Hälfte des Lebens, 2023, Zeichen­kohle auf Papier, 100 x 70 cm, 167. Porträt, 2022, Zeichen­kohle auf Papier 60 x 42 cm.
Zu sehen in der Ausstel­lung Iryna Vorona. Im Angesicht des Krieges vom 26.2.–25.5.2025. © Iryna Vorona

Die Ausstel­lung Iryna Vorona. Im Angesicht des Krieges im Kunst­mu­seum Wolfsburg präsen­tiert eine Auswahl von 23 Zeich­nungen sowie das Video I’m Paving the Way. Letzteres entstand aus Voronas persön­li­chen Erfah­rungen während ihrer Isolation in den von russi­schen Truppen besetzten Vororten von Kyjiw im Frühjahr 2022. In dieser Zeit, als medizi­ni­sche Versor­gung, Lebens­mittel und grund­le­gende Freiheiten unerreichbar wurden, führte die Künst­lerin Tagebuch – nicht mit Worten, sondern mit Bildern. Das Video, begleitet von Textfrag­menten aus diesen Aufzeich­nungen, macht die existen­zi­elle Unsicher­heit und die Zerbrech­lich­keit des Alltags in Zeiten des Krieges spürbar.

Die gezeigten Arbeiten stammen zum Teil aus Iryna Voronas Serie Kriegs­ta­ge­buch: Porträt­ar­chiv, die während der ersten 248 Tage nach Kriegs­be­ginn entstanden sind und erstmals der Öffent­lich­keit präsen­tiert werden. Sie dokumen­tieren die unmit­tel­baren Auswir­kungen des Krieges auf die Schwächsten der Gesell­schaft. Voronas Kunst ist dabei nicht nur ein Zeugnis des Leids, sondern auch ein Ausdruck von Wider­stand und Hoffnung.

„Ich wollte die Auswirkungen des Krieges im Herzen Europas auf die am wenigsten geschützten Menschen dokumentieren und die Schwierigkeiten zeigen, die sie im täglichen Kampf um grundlegende Rechte und Freiheiten durchmachen müssen“, beschreibt Iryna Vorona ihr Schaffen.

Neben den Werken aus der Ukraine zeigt die Ausstel­lung auch Arbeiten aus Iryna Voronas neuer Serie FLUCHT (Forced to Leave Ukraine. Course of Survival. Happiness and Tears). Seit ihrer Ankunft in Deutsch­land im Herbst 2023 setzt sie sich mit den Themen der erzwun­genen Migration, Identität und Anpassung ausein­ander. In diesen Zeich­nungen verwebt sie die Erfah­rungen von Migrant*innen und Geflüch­teten zu einem kollek­tiven Bild von Zusam­men­halt und Resilienz. So symbo­li­siert die Darstel­lung inein­ander verschlun­gener Hände die Kraft der Gemein­schaft, die hilft, ein fremdes Umfeld als neues Zuhause zu begreifen. Die Ausstel­lung findet im Zusam­men­hang des dritten Jahres­tages des völker­rechts­wid­rigen Angriffs­krieges Russlands auf die Ukraine statt.

Die Ausstel­lung in der Lounge über dem Café Kunst­pause ist vom 26.2.2025 bis einschließ­lich 25.5.2025 für alle Besucher*innen kosten­frei zugänglich.

Alle Ausstel­lungs­an­sichten Iryna Vorona. Im Angesicht des Krieges, Foto: Marek Kruszewski.

Eröffnungsrede von Direktor Andreas Beitin vom 25. März 2025

Gestern vor drei Jahren überfiel Russland in einem völker­rechts­wid­rigen Angriffs­krieg die Ukraine. 

Eigent­lich begann der Konflikt bereits vor über zehn Jahren mit der Annexion der Krim. Und man fragt sich immer wieder, warum damals eine entschie­dene Reaktion der Welt weitge­hend ausge­blieben ist. 

Die Lage der Ukraine wird aktuell nicht besser, zumal die USA unter der derzei­tigen Präsi­dent­schaft eines zynischen Dealma­kers vor wenigen Tagen eine komplette Kurswende vorge­nommen haben. Scheinbar vorbei ist die Zeit des Zusam­men­halts, der gemein­samen trans­at­lan­ti­schen Unter­stüt­zung der Ukraine. 

Die meisten von uns haben zum Glück noch keinen Krieg selbst erleben müssen und die Ukraine ist zumindest gefühlt sehr weit weg. Von daher kommt es mir fast anmaßend vor, etwas über den Krieg zu sagen. Aber ich kann etwas über Kunst sagen, über Kunst gegen Krieg, über die Kunst von Iryna Vorona. Es sind sehr einfühl­same Zeich­nungen von Menschen, die unter dem Krieg leiden, unter einem Krieg gegen die Ukraine, der nun seit drei Jahren tobt und die Menschen terrorisiert. 

In den letzten drei Jahren wird vor allem die Zivil­be­völ­ke­rung immer wieder gezielt angegriffen und getötet. Um sie zu zermürben, werden syste­ma­tisch Kranken­häuser, Kraft­werke und Infra­struk­turen zerstört, um den Menschen medizi­ni­sche Hilfe zu nehmen, um sie im Winter frieren und hungern zu lassen. 

So einfühlsam die Bilder von Iryna Vorona sind und einzelne Schick­sale von Menschen in Kyjiw zeigen, so stehen sie doch stell­ver­tre­tend für die gesamte ukrai­ni­sche Gesell­schaft, und sind vor allem eines: Anti-Kriegsbilder. 

Die Geschichte der Anti-Kriegs­bilder ist lang. Sie setzt vielleicht am Beginn des 19. Jahrhun­derts mit Francisco de Goyas Grafik­serie Los Desastres de la Guerra ein, mit der er die grausamen Handlungen während der napoleo­ni­schen Herrschaft in Spanien darge­stellt und damit unmiss­ver­ständ­lich angeklagt hat. Am Anfang des 20. Jahrhun­derts hat sich ab 1916 die Dada- Bewegung gegen den Ersten Weltkrieg und seine Auswir­kungen gewandt. Der Dadaismus hat seinen ätzenden Spott und Häme über das alte Kaiser­reich, bürger­liche Moral­vor­stel­lungen, soziale Missstände und den Natio­na­lismus ausgegossen. 

Nie wieder Krieg! Auch Käthe Kollwitz ist natürlich in diesem Zusam­men­hang mit ihren kraft­vollen Bildern zu nennen, mit denen sie eindeutig Position bezogen hat. Mit Guernica hat Pablo Picasso 1937 sicher­lich das bekann­teste Anti-Kriegs­bild des 20. Jahrhun­derts geschaffen. Es ist eine Reaktion auf den Angriff einer deutschen Flieger­staffel auf die alte baskische Königs­stadt, die damals weitge­hend zerstört worden ist.

Ab 1950 wurde vor dem Hinter­grund des Zweiten Weltkrieges, des Kalten Krieges und der verschie­denen weiteren Kriegs­hand­lungen in aller Welt der Facet­ten­reichtum der Antikriegs- Kunst­werke immer vielfäl­tiger. Künstler*innen haben sich direkt oder indirekt mit den Gewalt­akten von Kriegen ausein­an­der­ge­setzt. Durch die medialen Entwick­lungen – nicht zuletzt auch durch die verbes­serten Kommu­ni­ka­ti­ons­struk­turen – wurden auch zunehmend Film‑, Fotound Video-Kunst­werke geschaffen, um im politi­schen Sinn als Antikriegs­kunst einge­setzt zu werden. Susan Sontag spricht im Zusam­men­hang mit der ersten, medial erfahr­baren Kriegs­be­richt­erstat­tung aus Vietnam von einer „neue[n] teleintime[n] Nähe von Tod und Zerstö­rung“.1 Jedoch ist der Tod hierdurch nicht wirklich nah, sondern liegt aufgrund der medialen Distanz noch immer in virtu­eller Ferne. Dies trifft auch für die aller­meisten Kunst­werke zu, die innerhalb der verschie­denen Medien den Krieg sowie die mit ihm verbun­denen Auswir­kungen behandeln.

Ob mit feinen Linien oder expres­sivem Strich – Iryna Voronas Kohle­zeich­nungen sind einer­seits durch das künst­le­ri­sche Medium relativ weit weg von der Wirklich­keit und doch schaffen sie es, so viel direkte Emotio­na­lität, Trauer, Angst, aber auch Zusam­men­halt und die aus ihm hervor­ge­hende Zuver­sicht auszu­strahlen. Auch wenn wir nie selbst Krieg erlebt haben, auch wenn wir die Menschen nicht kennen, die in Voronas Bildern gezeigt werden, so geht aus den Werken doch eine große Unmit­tel­bar­keit hervor, die inten­siver sein kann als Fotos oder Videos. Der feine Strich ihrer Zeich­nungen läuft teils locker mäandernd über das Blatt, verdichtet sich an manchen Stellen zu Gesich­tern und Körper­frag­menten und teilt uns alles mit, was es zu wissen gilt. Es ist ein Wissen, das sich weniger an den Intellekt wendet, sondern mehr an unser Gefühls­zen­trum – verbunden mit der immer­wäh­renden Frage: Warum tun Menschen das einander an? Warum töten und quälen sie sich, anstatt sich um die eine Welt, in der wir alle leben, zu kümmern, sie zu erhalten. Gute Kunst stellt mehr Fragen, als das sie Antworten gibt. Ich bin dankbar, diese und viele weitere Fragen von Iryna Voronas Kunst gestellt zu bekommen.

1 Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten [orig.: Regarding the Pain of Others], dt. v. Reinhard Kaiser, München/ Wien 2003, S. 28.